Chalions Fluch
diese Woche noch ein wenig Zeit mit den Deklinationen verbringen.«
Iselle zog eine Schnute, bekundete dann aber seufzend ihre Einwilligung. Cazaril lächelte und verbeugte sich zum Abschied. Würde sie nicht mit einem regierenden König vermählt, hätte er nichts gegen einen Fürsten von den Grenzen Darthacas einzuwenden, überlegte Cazaril, als er die Stufen hinunterstieg. Zumindest dann nicht, wenn er Fürst einer der wärmeren nördlichen Provinzen Darthacas war. Entweder Macht oder eine große Entfernung würden Iselle vor den Schwierigkeiten schützen, die am Hofe Chalions lauerten. Und je früher, umso besser.
Für sie oder für mich?
Für uns beide!
Auch wenn Nan dy Vrit zusammenzuckte und die Hände vors Gesicht schlug, fand Cazaril, dass Iselle überaus strahlend wirkte in den karminroten Gewändern und mit den bernsteinfarbenen Locken, die auf dem Rücken fast bis zur Hüfte fielen. Er selbst trug eine Tunika aus rotem Brokat, die vormals dem verstorbenen Herzog gehört hatte, und seinen Überwurf aus weißer Wolle. Auch Betriz hatte ihr bevorzugtes rotes Kleid angelegt. Nan schützte Augenschmerzen vor und wählte nüchterne schwarze und weiße Farben. Die Rottöne bissen sich zwar ein wenig, setzten jedoch einen angenehmen Kontrapunkt zum regnerischen grauen Wetter.
Gemeinsam eilten sie über die nassen Pflastersteine zum Gebäudeflügel um Ias’ großen Turm. Die Krähen von Fonsas Turm hatten sich alle zu ihren Ruheplätzen zurückgezogen – nein, nicht alle. Cazaril duckte sich, als ein gewisser törichter Vogel, dem zwei Schwanzfedern fehlten, aus dem dunstigen Nieselregen herabstieß, an ihm vorüberflog und Caz, Caz! krächzte. Cazaril wehrte die Annäherung ab, besorgt, dass der Vogel womöglich irgendwelche Hinterlassenschaften auf seinem weißen Mantel zurückließ. Das Tier kreiste, gewann an Höhe und flog mit traurigem Kreischen wieder auf die zerbrochenen Dachschindeln zu.
Oricos Thronraum war mit rotem Brokat verziert und strahlend ausgeleuchtet: Kandelaber vertrieben das herbstliche Grau. Zwei oder drei Dutzend Höflinge und Damen sorgten für Wärme. Orico trug förmliche Gewänder und seine Krone, doch Königin Sara war an diesem Tag nicht an seiner Seite. Teidez wurde ein Platz auf einem kleineren Stuhl zu Oricos Rechten zugewiesen.
Die Prinzessin und ihr Gefolge küssten dem König die Hände und nahmen ihre Plätze ein. Iselle setzte sich auf einen kleineren Stuhl zur Linken von Saras leerem Platz; die anderen stellten sich längs der Saalwand auf. Lächelnd machte Orico sich daran, die für diesen Tag vorgesehenen Wohltaten zu verteilen, indem er Teidez die Einkünfte von vier königlichen Städten zum Unterhalt seines Haushalts zusprach. Der Prinz bedankte sich bei seinem älteren Halbbruder mit den formellen Handküssen und mit einer knappen, vorgefertigten Rede.
Dann winkte Orico den Kanzler herbei. Wie angekündigt, verlieh der König die Urkunden und das Schwert und empfing den Eid, der den älteren dy Jironal zum Herzog von Ildar machte. Einige der niederen Edlen Ildars knieten ihrerseits nieder und leisteten dy Jironal ihren Schwur. Dann übertrugen Martou und Orico gemeinsam die Grafschaft von Jironal mitsamt allen Städten und Steuereinnahmen auf Lord – nunmehr Graf – Dondo.
Iselle war überrascht und sichtlich erfreut, als der König ihr anschließend die Einkünfte von sechs Städten zur Unterstützung ihres Haushalts zusprach. Die Gabe war allerdings nicht unangemessen – ihre Alimentation war für eine Prinzessin bislang mehr als dürftig gewesen. Sie dankte ihrem Bruder artig, während Cazaril im Geiste sogleich Berechnungen anstellte. Würde Iselle sich nun einen eigenen Wachtrupp leisten können anstelle der geliehenen Männer aus Baocia, die sie bislang mit Teidez teilte? Und könnte Cazaril die Soldaten selbst auswählen? Könnte sie ein eigenes Stadthaus beziehen, unter dem Schutz ihrer eigenen Leute?
Iselle kehrte zu ihrem Platz auf dem Podium zurück und richtete ihre Kleidung. Erleichterung spiegelte sich auf ihrem Gesicht; erst jetzt wurde ihre Anspannung deutlich.
Orico räusperte sich und stand auf. »Ich freue mich, nun die glücklichste Anerkennung dieses Tages zu verleihen. Iselle, erhebe dich …« Orico reichte seiner Halbschwester die Hand, die sich erstaunt, aber lächelnd erhob, und nahm ihren Platz an seiner Seite vor dem Podium ein.
»Graf dy Jironal, tretet vor«, fuhr Orico fort. Lord Dondo, im vollen Ornat des
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