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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Kondensnebel, und mich ergriff eine recht lächerliche Zuversicht. Erst mit dem vierten Glas zog eine dunkle Wolke auf. Wolke? Nein, ein Fels zerdrückte mir die Brust. Ich besaß kein Heim, zu dem ich zurückkehren konnte. Ich hatte meinen kindlichen Anfall gehabt, und morgen würde ich zurück in meinen Käfig kriechen.
    In solch elender Verfassung befand ich mich, als die Tür aufschlug, und ein feuchter Windstoß durch den Gastraum fegte. Es war natürlich der unermüdliche Sumper, dessen großer, nasser Kopf wie ein Flusskiesel glitzerte. Als er sich zu mir setzte, dachte ich, Gott sei Dank, er will sich bei mir einschmeicheln.
    Er setzte sich seitlich an den Tisch, die stämmigen Beine gespreizt, und blickte sich prüfend um.
    »Es gibt überlegenere Geschöpfe als diese«, verkündete er (während ihm die Wirtin nickend und katzbuckelnd einen Krug Bier hinstellte). »Gäbe es keine überlegeneren Lebensformen«, sagte er, »würde ich mich erhängen.«
    Sollte das eine Entschuldigung sein, fragte ich mich. Er mochte mich nicht ansehen. Der Krug wurde auf den Tisch zurückgestellt und gleich wieder gefüllt, wobei die alte Kupplerin erneut ihren servilen Tanz aufführte. Mir entging nicht, wie bemüht die Stammgäste es mieden, uns anzusehen, da ihnen offenbar klar war, dass Sumper die Macht besaß, ihnen ein Leid zuzufügen. Was mich anging, so wusste niemand über meine wahre Natur Bescheid, ich am allerwenigsten.
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er, immer noch meinen Blicken ausweichend, »von denen spricht keiner Englisch.« Er rief: »Wer spricht hier Englisch?«, und niemand wagte es, ihm zu antworten.
    »Da sehen Sie’s«, sagte er triumphierend und hatte damit doch nur bewiesen, was für ein Rüpel er war.
    »Sind das wahrhaft Menschen?«, rief er mit seiner dröhnenden Stimme. »Sehen Sie hin, sagen Sie mir Ihre Meinung«, verlangte er, um dann den Stuhl zu drehen, und mir fiel auf, dass etwas Verschlagenes in seinem Blick lauerte. Hatte er Angst, mich zu verlieren?
    »Kommen Sie, Brandling, was denken Sie?«
    Ich dachte, da habe ich mich ja in die Hände eines ziemlich exzentrischen Tyrannen begeben, gab ihm anstandshalber aber dennoch eine höfliche Antwort und sagte, dass mir unsere Trinkkumpane durchaus menschlich schienen in all ihren Unterschieden und Ähnlichkeiten, an den Händen die Spuren harten Tagwerks gemeiner Menschen, die Züge gezeichnet von den traurigen Erosionen des Lebens. Ich hielt es für angemessen, ihm gewisse Auszüge aus
Die Stigmata der Arbeit
zu zitieren, worin der Autor Leichen beschreibt und auf die geschwollenen Finger einer Waschfrau verweist, auf die ganz eigene Hornhaut von Metallarbeitern und Kutschern sowie die Ähnlichkeit der breiten Daumen bei Schuhmachern und Glasbläsern. Er gibt zudem Anweisungen für das Kochen von Haut und Nagelschnitt bei mutmaßlichen Kupferarbeitern. Eine »schöne blaue Farbe« gilt als positives Zeichen.
    Er schenkte mir seine Aufmerksamkeit in gänzlich ungewohntem Maße.
    »Und Sie sind«, sagte er, sobald ich geendet hatte, »tatsächlich dieser Ansicht?«
    »Es ist ein wenig mehr als bloß meine Ansicht.«
    »Ja, gewiss, die Leute haben Stigmata, ganz wie Sie sagen.« (Stimmte er gerade zum ersten Mal einer Äußerung von mir zu?) »Aber besitzen sie auch eine Seele?«
    »Natürlich. Wie alle Menschen.«
    Dann aber merkte ich, wie er das Interesse verlor, galt seine Aufmerksamkeit doch kaum ›allen Menschen‹, sondern allein sich selbst.
    »Können Sie sich vorstellen, dass dies mein Geburtsort ist? Und können Sie sich ausmalen, wie wütend ich war, als ich begriff, dass meine Mutter mich achtlos solcher Gesellschaft ausgesetzt hatte? Nein, das können Sie nicht«, sagte er. »Sie sind ja Engländer.«
    Ich stöhnte, noch ehe ich wusste, was ich da tat.
    »Sie wurden nicht von Geburt an zu einem solchen Misthaufen gesperrt«, sagte er verärgert. »Sie glauben auch nicht an Geister, an Kobolde und das Heilige Herz Jesu. Sie sind weit gereist, und auch wenn man die Stigmata ihrer Arbeit erkennen kann, hilft das kein bisschen. Obwohl sie lebendig sind, diese Kreaturen, die Sie dort sehen, reisen sie nicht. Sie bleiben hier mit ihren haarlosen Schenkeln, ihren eingedrückten Brustkörben, ihren Märchen. Sie kennen den gestiefelten Kater, haben aber keine Ahnung, dass sich das ganze Universum verändert. Magie, die eine Zauberbohne übersteigt, können sie sich nicht vorstellen. Sie haben noch nie eine einfache

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