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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Glückseligen so viele sind! Welche Genauigkeit des Strichs! Was für hübsche Fische dort entlang der Küste gezeichnet sind! Meister Andrea, ich sehe, man hat mir wohl berichtet: Eure Werkstatt ist die Werkstatt von Künstlern!»
    Der Kammerherr erwähnte erneut den Botschafter. Murrend gab der König schließlich nach. Er grüßte uns huldvoll und verließ uns. Der Edelmann im strengen Gewand blieb ein wenig zurück, um uns zu belehren, wir sollten unsere Meisterwerke besser vor neugierigen Blicken schützen. An seinem Ton, der keine Widerrede duldete, erkannte jeder in ihm einen Staatsdiener der
Sigila.
    So endete der erste Besuch des Königs. Wir machten uns wohl oder übel wieder an die Arbeit, in Gedanken weit weg und mit stolzgeschwellter Brust. Die Federn kratzten wieder über die Häute. Kurz darauf ertönte Andreas wütende Stimme:
    «Wer hat hier geplaudert? Ich bekomme es heraus. Diese Karte gehört mir, ganz allein mir.»
    Einen Monat später kam der König erneut, begleitet von denselben beiden Männern, der eine wieder prunkvoll, der andere wieder streng gekleidet. Zwei Wochen später erschien er zum dritten Mal. Jetzt kannte er den Weg. Kaum hatte er die Werkstatt betreten, eilte er zum alten Anbau. Der König fragte immer mit denselben Worten:
    «Nun? Wo sind wir mit Afrika?»
    «Es zieht sich hin, Eure Majestät.»
    «Dann wollen wir mal sehen!»
    Er schubste alle beiseite, eilte zu der riesigen Karte und betrachtete diese unglaubliche Ausdehnung wie ein Vater, den das übermäßige Wachstum eines Kindes bekümmert.
    Andrea zeigte ihm die neuesten Entwicklungen des Kontinents gemäß den Berichten von den Karavellen: hier eine riesige Lagune, dort ein neues Archipel. Und immer diese endlose Küste, die, nachdem sie innegehalten und sich gen Osten zurückgezogen hatte, nun erneut nach Süden abfiel.
    «Wie weit reicht sie wohl?»
    «Woher soll man das wissen, Majestät?»
    Die königliche Schlussfolgerung war immer dieselbe:
    «Ich werde noch mehr Schiffe losschicken.»
    An einem Tag, als wir gerade die neuesten im Hafen gesammelten Informationen auf die riesige Karte übertrugen, recht zuverlässige Informationen, die besagten, dass Afrika sich noch weiter erstreckte, dass südlich der unendlichen Wälder allerdings eine brennend heiße Sandwüste begann, die sich jedoch nicht endlos hinziehen konnte, denn je weiter man nach Süden vorstoßen würde, umso bälder müsste sich eisige Kälte bemerkbar machen, zu der kein heißer Sand passt – an diesem Tag hörten wir auf einmal einen Heidenlärm. Er kam vom Eingang zur Werkstatt.
    Wir ließen auf der Stelle unsere Wand im Stich, um dem schreienden Meister Andrea zu Hilfe zu eilen. Wir sahen ihn mit einer Person ringen, die wir nur zu gut kannten, dem stets streng gekleideten Berater des Königs, dem Beamten der
Sigila.
Soldaten begleiteten ihn.
    «Niemals!», brüllte Andrea.
    «Es ist des Königs Wille und Zeichen seines Vertrauens», gab der Strenge zurück.
    Andrea ging auf ihn zu und hätte ihm zweifellos einen heftigen Schlag ins Gesicht versetzt, wenn sich die Truppe nicht dazwischengestellt hätte.
    Man muss anerkennen, dass der Gesandte des Königs zu keinem Augenblick die Fassung verlor.
    «Zum einen ist die
Sigila
der Meinung, dass die Sicherheit Eurer Räumlichkeiten trotz unserer wiederholten Hinweise nicht ausreichend gewährleistet ist…»
    Meister Andreas Zorn legte sich nicht, er war in ein neues Stadium getreten: Sein zuvor scharlachrotes Gesicht war kreideweiß geworden.
    «Zum anderen hat der König in seiner unerschöpflichen Weisheitund leidenschaftlichen Sorge um die Entdeckungsfahrten beschlossen, Euren riesigen Plan, für den er Euch noch einmal seine Dankbarkeit bezeugt und Euch eine Zuwendung gewährt, deren Höhe Euch nicht enttäuschen wird, in seinen Palast heimzuführen.»
    Meister Andrea zuckte mit den Schultern, ohne dass man hätte sagen können, ob er sich über die schwülstige Rede des Hofbeamten oder über die finanzielle Entschädigung lustig machte. Dieses Schulterzucken war die letzte Bekundung seiner Unzufriedenheit. Plötzlich war er die Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft in Person. Er trug eigenhändig und tatkräftig dazu bei, die Karte von der Wand zu lösen, und führte uns die sichersten Handgriffe vor, um sie nicht zu zerreißen. Nachdem er das Meisterwerk mit einem Seidentuch hatte abdecken und vorsichtig aufrollen lassen, überwachte er mit höchster Aufmerksamkeit, wie es verpackt wurde. Er

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