Cruzifixus
Empörung Luft zu machen. Das Dumme daran war, dass Vroni den Nagel auf dem Kopf getroffen hatte. Die Story war Scheiße: ein mit ein paar dürftigen Fakten angereicherter Mischmasch aus Plattitüden, Phrasen und Gemeinplätzen, bar jeden kreativen Esprits. Dort wo ein breiter Informationsfluss strömen sollte, versickerte ein klägliches Rinnsal in der Bleiwüste. Wieso fand er einfach nicht die rechten Worte, um den Todessturz des Diözesandechanten in allen Farben der Regenbogenpresse schillern zu lassen? Wieso fiel ihm nichts Zündendes ein? Dabei war er in unmittelbarer Nähe des Tatorts gewesen. Zusammen mit dem Schankkellner hatte er die Kripo verständigt und war als Zeuge vernommen worden. Er hatte die Leiche mit eigenen Augen gesehen – und? Jetzt saß er hier und starrte wie der Tote in die große Leere. Wo war sein Sinn für griffige, drastische Formulierungen? Wieso bekam er die losen Enden der Geschichte nicht zu fassen, wieso fand er nicht den roten Kettfaden, der den Marter-Mord, das Verschwinden des Eremiten und den „Unfalltod“ durchschoss? Zum x-ten Mal filzte er die Meldung der Polizeipressestelle:
„Tödlicher Unfall überschattet Maifeier. Beim Heimweg von einer Festveranstaltung in Hochharting verunglückte der 44-jährige Dominikus D. tödlich. Einsatzkräfte der Bergwacht und der Feuerwehr drangen noch am Abend des 1. Mai zu der schwer zugänglichen Unglücksstelle unterhalb der Schwarzen Wand vor, konnten aber nur noch den Tod des Unfallopfers feststellen. Die zuständige Staatsanwaltschaft Bad Erchtenhall hat - wie in solchen Fällen üblich – umgehend die Obduktion des Leichnams angeordnet. Aus dem Zwischenbericht des Instituts für Rechtsmedizin und Gerichtspathologie in Rosenheim geht hervor, dass ein Sturz aus rund 60 Metern Höhe zu multiplen Frakturen im Becken-, Kopf- und Wirbelsäulenbereich und zu schweren inneren Verletzungen führte. Diese Verletzungen waren von solch gravierender Natur, dass Sie ein akutes Organversagen und den sofortigen Tod des Unfallopfers nach sich zogen. Die Untersuchung der Urin- und Blutprobe ergaben keinerlei Hinweis auf Drogen- oder Medikamentenmissbrauch, es wurden jedoch erhebliche Mengen von Restalkohol in einer Höhe von 2,4 Promille im Blut festgestellt. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen kann Fremdverschulden ausgeschlossen werden.“
Simon verschränkte seine Hände hinterm Kopf. Die fundamentale Frage ließ der Polizeibericht unbeantwortet: Warum war Dirrigl in den Tod gestürzt? Weshalb sollte da nicht jemand nachgeholfen haben? Weder die Unfall-, noch die Suizidhypothese erschien ihm plausibel. Was also blieb: Mord! Die Zeit drängte: in fünfzehn Minuten mussten die Änderungen passgenau sitzen. Simon zögerte. Sollte er ein dickes Fragezeichen hinter die Darstellung des „Unfallgeschehens“ setzen? Mord und Totschlag waren sein Metier, waren die Kür im Pflichtprogramm der Provinz-Presse: wenn ein Stammtischbruder seinem Nebenbuhler den Hirschfänger ins Gekröse rammte, ein bis über beide Ohren verschuldeter Kleinhäusler seine ganze Familie auslöschte, der allseits beliebte Postbeamte plötzlich Amok lief und in die Menge ballerte war Simon zur Stelle. Bei jeder neuen „Mordsgeschichte“ hatte er die Frage nach dem „Grund“, nach dem „Motiv“ gestellt. Doch nie hatte er eine befriedigende Antwort auf seine Fragen erhalten. Was ließ den Adam zum Kain werden? Welch unterdrückte Aggressionen, welch dunkle Obsessionen trieben ihn in den Wahn? In seinen Alpträumen sah sich Simon regelmäßig auf einem Drahtseil über gähnende Abgründe balancieren, nur um irgendwann den Halt zu verlieren und in die Tiefe zustürzen.
Simon warf einen Seitenblick auf die überdimensionale Bahnhofsuhr an der Wand: zehn Minuten bis zum Countdown! Natürlich konnte er den Polizeibericht paraphrasieren, sich auf die laufenden Ermittlungen berufen, sich an die „Fakten“ halten: Fingerabdrücke, Faserfetzen und DNA-Rückstände – sämtliche Indizien wiesen daraufhin, dass Dirrigl wie ein tobsüchtiger Sumo-Ringer durchs Unterholz gepflügt war, sich beim Kampf mit Ästen und Zweigen einige kleinere Schrammen, Blessuren und Risswunden zugezogen hatte. An der Abbruchkante war er ausgerutscht und lotrecht in die Tiefe gestürzt. Sein Körper war mehrmals mit voller Wucht gegen die Felsen geprallt, hatte sich etliche Male überschlagen und war am Rand einer
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