"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
also auch weiter.
Wir saßen also sonntags da auf meiner lindgrünen Eckcouch und schauten Tatort . Mir hat sich die Mystik und Romantik dieser deutschesten aller deutschen TV-Sehgewohnheiten zwar nie erschlossen. Vielleicht auch deshalb, weil der Täter so enttäuschend schnell auszumachen war und irgendwann der Tatort aufgehört hat, Krimi zu sein, sondern immer irgendwie zum Sozialdrama, zur Gesellschaftskritik oder eben zum Klamauk verkam. Vor allem aber, weil ich wegen meines Harndrangs immer dann wieder mein eigenes Tatörtchen aufsuchen musste, kaum dass ich die Couch wieder erreicht hatte.
Wir schauten dennoch. Ich war immer offen für Rituale, wusste, dass es Steffi viel bedeutete, und ich war ja nicht pausenlos Unmensch. Zudem waren meine Wochentage ohnehin nach TV -Sendungen eingeteilt, warum also nicht am Sonntagabend Tatort schauen? Es gestaltete sich auch recht einfach: Vor dem Fernseher sitzen, nicht viel reden, ein wenig das Drehbuch bekritteln, früh den Täter entlarven und sich ansonsten langweilen.
Dies war die Zeit, in der ich meine Füße fast nicht mehr spüren konnte. Eiskalt trotz Fußbodenheizung. Spröde, voll Wasser, voller Risse, voller Schmerzen.
Steffi ließ stoisch alle meine Demütigungen über sich ergehen – oder sie ließ sie schlicht abprallen –, und sie ließ sich auch meinen Obstsalat schmecken, den ich ihr stets reichte und bei dessen Zubereitung ich es zu einiger Perfektion brachte. Sie musste ihn essen, denn ich konnte es nicht ertragen, wenn jemand in meiner Umgebung nicht aß. Dann nämlich fragte ich mich: Wenig Essen, aber dennoch nicht mager. Wie kann das sein? Ich verglich meine Nahrungsaufnahme, setzte sie in irgendwelche obskuren Rechnungen ein und kam zum Schluss: Ich esse ja mehr als Steffi. Ich werde bald wieder zunehmen.
Sie saß während der Zubereitung auf der langen Seite der Couch, ich stand in ihrem Rücken, in der Küche. Wehe, sie drehte sich um! Ich legte mich danach auf die Recamiere der Eckcouch. Nun, ich lagerte meist nur kurz, weil ich immer wieder auf die Toilette musste. Ich jammerte in der Zeit immer wieder: »Meine Füße, meine Füße bringen mich um.« Trotz der Eiseskälte waren sie nicht taub, ich hätte es mir manchmal gewünscht.
Natürlich hatte ich mir in meinem Shoppingwahn längst ein Fußbade- und -massagegerät besorgt – das aber die ganze Zeit unbenutzt herumstand. Steffi brachte mir dafür eines Tages die passenden Essenzen und Mittelchen mit. Sie bereitete das Wasser, kochte auf und kühlte ab, bis ich das Gefühl hatte, jetzt passt es mir. Eine Wohltat, eine Wiederbelebung nicht am falschen, sondern genau am richtigen Ende! Wenn ich dann mal wieder Wasser lassen musste, trocknete Steffi meine Füße ab, ich flitzte hinaus und steckte hinterher meine Füße wieder unter die Wasserdecke.
Danach nahm Steffi sich meine Füße noch richtig vor, massierte sie und cremte sie ein. Sie übte dabei nur sanften Druck aus, war zugleich behutsam und hochwirksam. Es war herrlich. Es war auch demütigend, schließlich waren wir zwar nahe Freunde, uns aber eben nicht körperlich nah – doch in erster Linie war es unsagbar wohltuend und schön.
Später haben wir sonntags auch immer mal ein Süppchen gekocht. Und nicht einmal jeder sein eigenes. Sie wusste mittlerweile, was und wie ich die Speise haben wollte. Sie ließ sich ein auf das fettlose Anbraten des Gemüses. Sie nahm ein Brötchen dazu, ich ein Bröckchen Zucchini oder Kohlrabi. Alles war prima, alles hätte so weitergehen und Teil einer schleichenden Besserung werden können.
Aber ich wollte keine Besserung. Anna wollte keine Besserung. Sie wollte, dass diese Frau mich nicht mehr anfasst und mich nicht mehr mit ihrem Essen vollstopft. Irgendwann habe ich unsere Suppenküche geschlossen. Beschlossen, dass mir Tatorte gestohlen bleiben können. Ebenso wie die visuelle Aufarbeitung der gigabyteweise auf Festplatte abgelegten Sendungen, die Steffi und ich manchmal als Vorprogramm anschauten. Ich wusste, dass ich nun einen Großteil nie anschauen würde. Warum auch? Sie waren da, das genügte erst mal. So habe ich mich zusammen mit Anna wieder in mir selbst eingeschlossen.
So hätte ich fast auch Steffi verprellt, diese wunderbare, ehrliche, aufrichtige Freundin. Aber sie ließ sich nicht verscheuchen, sie war auf beeindruckende Weise bissresistent. Und so wurde sie zu einer unschätzbar kostbaren Begleiterin, die mehr als jeder andere Mensch die schlimmsten Phasen meiner
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