dark canopy
er fand keinen Schlaf.
Etliche Male holte ich Atem, um zu sprechen, und ebenso oft verließ kein Wort meinen Mund.
»Joy?«, sagte er irgendwann leise. »Ich möchte schlafen. Bitte sag es heute noch oder warte bis morgen.«
Trotz seiner Worte brauchte ich noch mehrere Minuten, ehe ich den Mut fand, ihn zu fragen: »Was, glaubst du, ist da draußen?«
Er gähnte. »Schau aus dem Fenster, Frau.«
Ich musste kichern. Frau hatte er mich noch nie genannt. Es weckte eine ganz andere Frage in mir, die ich mir in Flagg’s Boulder verkniffen hatte. »Wer ist Alex?«
Ich hörte Neél leise lachen. »Alex war zunächst Flynns Dienerin. Dann seine Frau. So wie Mina Clouds Frau ist.«
»Er hat also Anspruch auf sie erhoben?«
»So wie ich Alex einschätze, hat sie Anspruch auf ihn erhoben. Aber nenn es, wie du willst.«
»Was hat sie gegen mich?«
»Mindestens ein Messer, aber mach dir keine Sorgen, darin bist du ihr überlegen.«
»Neél? Versuch so spät am Abend nicht mehr lustig zu sein.« Ich tat mein Bestes, ihn das Grinsen in meiner Stimme nicht hören zu lassen. »Warum hat sie mich so komisch angesehen?«
Er seufzte. »Vielleicht, weil sie blind ist?«
Das nahm mir für einen Moment die Worte. »Bist du sicher?«
»Sehr sicher.«
»Das merkt man ihr nicht an.«
»Sie verbirgt es.« Er richtete sich im Bett auf. Durch den Hauch von grauem Nachtlicht, das zum Fenster hereinfiel, konnte ich nur seine Silhouette erkennen. »Schwäche zu zeigen, macht die Feinde stärker.«
Sie hielt mich für ihre Feindin? »Sie traut mir nicht.«
»Sie traut erst mal niemandem.«
Ich ahnte, dass das nicht alles war. Ich war ein Mensch, genau wie sie. Warum hätte ich sie verraten sollen?
»Ist ja auch nicht so wichtig«, murmelte ich. »Ich wollte etwas anderes wissen.«
»Ach«, spottete er. Ich spürte, dass er mich ansah. »Wirklich?«
»Wirklich. Ich wollte dich fragen, was deiner Meinung nach hinter dem Meer ist. In den anderen Ländern, die deinen Präsidenten solche Angst machen.«
Neél atmete tief ein und ließ die Luft geräuschvoll über die Lippen strömen. »Ich habe keine Ahnung. Aber ich habe eine Hoffnung.«
»Welche?«
Im nächsten Augenblick wünschte ich, ich hätte nicht gefragt. Neél stand auf und kam zu mir. Sein Haar war offen. Das Nachtlicht zog blaue Strähnen ins Schwarz. Sein Oberkörper war nackt. Ich wollte wegsehen - ich wollte wirklich wegsehen -, aber irgendetwas ließ mich nicht. Vielleicht war es seine Fähigkeit, mich bewegungsunfähig zu machen. Seine Schlangenaugen. Teuflisch. Und auf aufregende Weise auch ein winziges bisschen schön.
Er setzte sich auf meine Bettkante. Die Matratze senkte sich, so-dass ich ungewollt näher rutschte. Unter meinem Kopf knisterten das Papier und der Pass.
»Hier passiert einiges, das nicht richtig ist«, sagte er so leise, dass ich ihn trotz der plötzlichen Nähe kaum noch verstehen konnte. Weit entfernt, hinter der Stadtgrenze, heulte voller Sehnsucht ein Hund. »Vielleicht ist es auf der anderen Seite des Meeres anders.«
»Du glaubst, die Menschen könnten frei sein?«
»Das kann möglich sein, aber will ich das?« Er blieb ernst. »Will ich, dass jene frei sind, die meine Art über Jahrzehnte als Sklaven missbrauchten?«
»Das gibt euch nicht das Recht -!«, fuhr ich auf, aber er unterbrach mich sanft und leise.
»Vielleicht ist hinter dem Meer ja Frieden.«
»Glaubst du, das ist möglich?«
Er antwortete mit zärtlichem Spott in der Stimme, der mich irritierte: »Wenn es dort keine Menschen mehr gibt, dann bestimmt.«
»Mag sein.« Mir gelang nur noch ein Hauchen und ich wollte mich räuspern, um energisch zu widersprechen. Da streckte er die Hand aus und berührte meine Haare. Ich lag da wie erstarrt.
Was tust du, schrie es in mir. Fass mich bloß nicht an! Doch jeder Laut blieb mir in der Kehle stecken.
Auch Neél klang, als fiel ihm das Atmen schwerer. »Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich will. Ich will sehen, was möglich ist.«
Er zog seine Hand langsam zurück und ich fand meine Sprache wieder. »Jetzt weiß ich endlich, wo du jeden Abend warst«, plapperte ich, um das angespannte Schweigen mit Gewalt zu zerstören. »Du warst in Flagg’s Boulder.«
»Unter anderem«, erwiderte er und wirkte dabei irgendwie niedergeschlagen. »Cloud hat dich deswegen als meinen Soldaten ausgewählt. Er ahnte schon, dass ich deine Ausbildung sehr ernst nehmen und weniger Zeit mit Graves und den anderen verbringen
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