Das alte Königreich 02 - Lirael
Gruft!« Sie blickte die Fragwürdige Hündin an. »Ich wusste es.«
»Genau genommen ist es mehr ein Ossarium, ein Beinhaus«, berichtigte die Hündin. »Soviel ich weiß, wird eine Clayr, wenn sie ihren Tod sieht, mit einem Seil zu einem Sims hinuntergelassen, wo sie dann ihr eigenes Grab schaufelt…«
»Das ist nicht wahr!«, unterbrach Lirael sie entrüstet. »Die Clayr wissen es nur in einem bestimmten Maße. Pallimore und die Gärtner bereiten für gewöhnlich die Höhlen vor. Tante Kirrith sagt, es ist sehr unkultiviert, sein eigenes Grab schaufeln zu wollen…«
Sie unterbrach sich plötzlich und flüsterte: »Hündin? Bin ich hier, weil man mich sterben Gesehen hat und ich mein eigenes Grab schaufeln muss, da ich unkultiviert bin?«
»Ich muss dich wohl mal
richtig
beißen, wenn du mit diesem Unsinn weitermachst«, knurrte die Hündin. »Woher diese plötzliche Besessenheit, was den Tod betrifft?«
»Weil ich ihn rings um mich fühlen kann«, murmelte Lirael. »Überall hier.«
»Das liegt daran, dass an Orten, wo viele Menschen gestorben sind oder begraben liegen, die Türen zum Tod nicht ganz geschlossen sind«, antwortete die Hündin gedankenverloren. »Das Blut vermischt sich… darum gibt es immer Clayr, die den Tod spüren.
Das
fühlst du. Du solltest dich nicht davor fürchten.«
»Ich fürchte mich auch nicht«, entgegnete Lirael ein wenig verwundert. »Es ist wie… wie ein Unwohlsein, von dem man sich befreien will.«
»Du bist doch nicht in Nekromantie bewandert, oder?«
»Natürlich nicht! Das ist Freie Magie. Sie ist verboten.«
»Nicht unbedingt. Clayr haben sich früher mit Freier Magie beschäftigt, und manche tun es jetzt noch«, sagte die Hündin abwesend, denn sie hatte etwas gewittert und schnüffelte aufgeregt um Liraels Füße herum.
»Wer beschäftigt sich mit Freier Magie?«, fragte Lirael. Die Hündin antwortete nicht, sondern schnüffelte weiterhin. »Was riechst du da?«
»Magie.« Die Hündin blickte kurz auf, bevor sie in immer größeren Kreisen lief und weiter schnüffelte. »Uralte Magie. Sie ist hier in den Tiefen der Welt verborgen. Wie… au!«
Sie jaulte auf, als plötzlich Flammen über die Kluft sprangen und sich überall Hitze und Licht ausbreiteten. Lirael, völlig unvorbereitet, taumelte rückwärts und fiel durch die Türöffnung. Einen Augenblick später prallte die Hündin, deren Fell versengt roch, mit ihr zusammen.
Im Innern des Feuerwalls nahmen menschenähnliche Gestalten Form an, die ihre Arme und Beine auf seltsame Weise bewegten. Charterzeichen tosten und schwammen in dem gelben, blauen und roten Inferno, flossen jedoch zu schnell, als dass Lirael sie hätte erkennen können.
Dann traten die Gestalten aus den Flammen – Krieger, die völlig aus Feuer bestanden und mit weiß glühenden Schwertern bewaffnet waren.
»Tu etwas!«, bellte die Hündin.
Doch Lirael starrte nur auf die sich nähernden Krieger. Sie war wie gebannt von den Flammen, die durch ihren Körper loderten. Sie alle waren Teil eines gewaltigen Charterzaubers – ein ungeheuer mächtiger Wächtersendling aus Feuer.
Lirael erhob sich, tätschelte den Kopf der Hündin und schritt geradewegs auf die sengende Hitze und die Wächter mit ihren Flammenschwertern zu.
»Ich bin Lirael«, sagte sie und verlieh ihren Worten die Charterzeichen der Wahrheit und Klarheit. »Eine Tochter der Clayr.«
Ihre Worte hingen einen Moment in der Luft und schnitten durch das Knistern und Prasseln der feurigen Sendlinge. Dann hoben die Wächter ihre Schwerter wie zum Salut – und eine Welle noch glühenderer Hitze wogte vorwärts und raubte Lirael die Luft. Sie würgte, hustete, machte einen Schritt zurück… und verlor das Bewusstsein.
Lirael kam wieder zu sich, als die Fragwürdige Hündin ihr das Gesicht ableckte, mindestens zum zehnten Mal, nach der dicken Geiferschicht auf Liraels Wange zu schließen.
»Was ist geschehen?«, erkundigte sie sich und schaute sich rasch um. Es war kein Feuer mehr zu sehen, keine brennenden Wächter, doch winzige Charterlichtzeichen blinkten rings um sie her wie Sterne.
»Sie haben deine Luft verbrannt, als sie salutierten. Wer immer diese Sendlinge erschuf, hat damit gerechnet, dass Besucher sich von der Tür aus zu erkennen geben«, erwiderte die Hündin. »Oder es waren besonders dumme Sendlinge. Zumindest einer war so freundlich, ein paar von diesen Lichtern herüberzuwerfen. Übrigens, ein Teil von deinem Haar ist verbrannt.«
»Verflixt!«, entfuhr es
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