Das alte Königreich 02 - Lirael
achteckigen Raum, dessen Wände jedoch nicht aus kaltem, gehauenem Stein bestanden, wie sie es hier im Herzen des Berges erwartet hatte, sondern die in einem zarten Muster aus goldenen Sternen, Türmen und Silberschlüsseln gefliest waren. Die Decke war als Nachthimmel bemalt, voller schwarzer, regenschwerer Wolken, die auf sieben strahlend helle Sterne zutrieben. Außerdem bemerkte Lirael, dass sich ein Teppich unter ihren nackten Füßen befand, tiefblau und weich, der sich nach den kalten, nassen Steinen der Brücke herrlich warm anfühlte.
In der Mitte des Raumes stand in einsamer Pracht ein Rotholztisch, dessen schlanke Beine in silbernen, dreizehigen Füßen endeten. Auf der schimmernden Platte waren drei Gegenstände aufgereiht: eine kleine Metallschatulle in der Größe von Liraels Handfläche; etwas, das wie eine metallene Panflöte aussah; und ein in tiefblauem Leder gebundenes Buch mit silberner Schließe. Der Tisch oder die Gegenstände darauf waren unverkennbar der Fokus für die Magie, denn die Pusteblumenlichter schwärmten dort am dichtesten und schufen so den Eindruck von leuchtendem Nebel.
»Geh schon«, forderte die Hündin sie auf und ließ sich auf die Hinterbeine nieder. »Sieht aus, als wäre es das, weswegen wir gekommen sind.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Lirael misstrauisch und nahm mehrere tiefe, beruhigende Atemzüge. Sie fühlte sich jetzt verhältnismäßig sicher, doch es war sehr viel Magie im Raum, die sie nicht kannte und von der sie nicht wusste, welchem Zweck sie diente oder woher sie stammte. Und immer noch hatte sie den Geschmack von Freier Magie am Gaumen und auf der Zunge, der einfach nicht verschwinden wollte.
»Die Türen haben sich für dich geöffnet. Der Pfad hat sich für dich erhellt. Und die Wächter haben dir nichts angetan.« Die Hündin stupste Liraels offene Hand mit ihrer kalten, feuchten Nase, blickte wissend zu ihr hoch und fügte hinzu: »Was immer sich auf diesem Tisch befindet, muss für dich gedacht sein. Und das wiederum bedeutet, dass es nicht für mich ist. Also werde ich hier sitzen bleiben… oder besser noch, ich leg mich auf den Teppich. Weck mich, wenn wir gehen müssen.«
Die Hündin streckte sich, gähnte genüsslich und machte es sich auf dem Teppich bequem. Sie wischte ein paarmal mit dem Schweif darüber, dann nickte sie ein.
»Oh, Hündin!«, rief Lirael. »Du kannst doch jetzt nicht schlafen. Was soll ich tun, wenn etwas Schlimmes passiert?«
Die Hündin öffnete ein Auge und sagte gähnend: »Mich wecken natürlich.«
Lirael blickte hinunter auf das schlafende Tier, dann schaute sie zum Tisch hinüber. Der Stilken war das Schrecklichste, was ihr bisher im Bibliotheksbereich begegnet war, doch in den vergangenen Jahren war sie auch auf andere Gefahren gestoßen – grässliche Kreaturen; alte Charterzauber, die undurchschaubar geworden waren; mechanische Fallen; sogar vergiftete Bucheinbände, die eine besondere Gefahr für Bibliothekarinnen darstellten. Doch nichts hatte den unbekannten Dingen geähnelt, denen sie sich jetzt gegenübersah. Was immer diese Gegenstände waren, sie wurden stärker bewacht – und mit seltsamerer und mächtigerer Magie – als alles, was Lirael bisher gesehen hatte.
Welche Magie sich hier auch konzentrierte, sie war sehr alt, wie Lirael erkannte. Die Wände, der Boden, die Decke, der Teppich, der Tisch, sogar die Luft im Raum waren mit Charterzeichen gleichsam durchtränkt, von denen einige gewiss mehr als tausend Jahre alt waren. Überall konnte Lirael deren Bewegung spüren, ihre Vermischung und Veränderung. Als sie flüchtig die Augen schloss, fühlte der Raum sich fast wie ein Charterstein an, eine Quelle von Chartermagie, nicht bloß wie ein Ort, an dem nur viele Zauber gewirkt worden waren, ohne dass dieser Ort selbst Magie verströmte.
Doch das war unmöglich. Jedenfalls, soweit sie wusste…
Der Gedanke machte Lirael schwindelig, so dass sie rasch wieder die Augen aufschlug. Charterzeichen flossen an ihre Haut, in ihren Atem, schwammen in ihrem Blut, und zwischen den Zeichen schwebte Freie Magie. Die Pusteblumenlichter streckten sich ihr wie Tentakel entgegen, wanden sich sanft um ihre Taille und zogen sie langsam zum Tisch.
Die Magie und die Lichter machten sie benommen und wie schwerelos – ein Gefühl, als würde sie aus einem Traum erwachen. Lirael kämpfte kurz dagegen an, ließ es dann aber, denn es war angenehm und überhaupt nicht bedrohlich. Sie ließ die schlafende
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