Das Amulett der Pilgerin - Roman
wer du bist, haben wir nur geborgte Zeit. Dich zu besitzen, um dich dann wieder zu verlieren, das könnte ich nicht ertragen.«
Er stand auf und bereitete sich ein Lager auf dem Fußboden. Die Flamme des Kerzenstummels flackerte und verlosch. Viviana starrte in die Dunkelheit. Vielleicht hatte Julian recht? Vielleicht liebte sie jemand anderen? Wieso konnte sie sich dann nicht daran erinnern? Wenn sie ihr Herz schon vergeben hatte, wie konnte sie es jetzt ein zweites Mal verlieren?
Sie brachen früh am nächsten Morgen auf. Es war unangenehm heiß und stickig, ein Gewitter lag in der Luft. Die Landschaft war von einer wilden, schönen Einsamkeit, doch die Stimmung der beiden Reisenden war niedergedrückt. Keiner von ihnen hatte seit ihrem Aufbruch ein Wort gesprochen. Viviana dachte an Rinaldo. War er noch am Leben? In was war er verwickelt? Vielleicht war die Suche nach ihm unsinnig, und möglicherweise wollte er gar nicht gefunden werden? Wäre es nicht sinnvoller, wenn sie zurück an die Küste reisten und versuchten herauszufinden, wer sie war?
»Das sieht gar nicht gut aus, was da vor uns liegt.«
Julian deutete auf die schwarzen Wolken, die sich im Osten auftürmten.
»Wer weiß, wann das Gewitter losbricht.« Viviana blickte sich um. »Und kein Unterstand oder Schutz weit und breit.«
Sie befanden sich auf einer langgestreckten, fast baumlosen Bergkuppe.
Julian deutete nach Norden.
»Dort geht es bergab. Wir sollten in diese Richtung reiten, denn hier auf der Hochebene ist die Gefahr zu groß, von einem Blitz getroffen zu werden.«
Viviana nickte. Sie waren die höchsten Punkte in dieser Landschaft, und während eines Gewitters war das keine gute Sache. Sie lenkten die Pferde von dem Trampelpfad, dem sie gefolgt waren, und ritten querfeldein in Richtung Norden. Sorgenvoll beobachteten sie, wie das Gewitter schnell näher kam, und trieben ihre Tiere zum Galopp an. Es ging bergab zu einem breiten Bach. Einzelne schwere Tropfen fielen, die Sonne war verschwunden, und es war erheblich kälter geworden. Dann zuckte ein gleißender, erster Blitz über den Himmel. Der Donner war ohrenbetäubend. Es war, als wären plötzlich die Pforten der Hölle aufgestoßen worden, und ein unglaubliches Inferno brach über sie herein. Der Regen prasselte so stark auf sie herab, dass sie kaum einen Fuß weit sehen konnten. Mit einem fürchterlichen Knall schlug ein Blitz direkt neben Viviana in den Boden. Ihr Pony ging durch und preschte durch die Wasserflut, die vom Himmel fiel. Viviana klammerte sich an den Sattel und hoffte, dass das Tier nicht stürzte. Es war unmöglich, das Pony zu bändigen. Sie war klatschnass und konnte kaum etwas sehen. Um sie herum schlugen Blitze in den Boden, und der Lärm war kaum auszuhalten. Das Pony galoppierte neben dem Bach her, der immer mehr zu einem reißenden Fluss anschwoll. Wie ein Peitschenhieb traf plötzlich der Ast eines Baumes Viviana und schleuderte sie aus dem Sattel. Das tosende Wasser schlug über ihr zusammen. Sie kämpfte sich an die Oberfläche, nur um augenblicklich wieder nach unten gezogen zu werden. Sie brauchte Luft! Aber nach jedem verzweifelten Atemholen wurde sie wieder unter Wasser gezogen. Viviana kämpfte mit aller Kraft, doch ihre Arme versagten ihr schließlich den Dienst. Da plötzlich war es wieder! Das Geheimnis. Es war ganz nah um sie herum in dem tosenden, kalten Wasser, das sie nicht atmen ließ. Vivianas Sinne schwanden. Sie spürte, wie das Geheimnis von ihr Besitz ergriff, sie erinnerte sich … Plötzlich, fast brutal, wurde sie wieder an die Oberfläche geschleudert. Mit einem verzweifelten, gierigen Atemzug kehrte das Leben in sie zurück. Viviana begann sofort wieder zu kämpfen. Es ging ums Überleben. Und sie wollte leben, sie musste unbedingt leben. Sie erwischte einen kräftigen Ast, der von einem Baum abgebrochen war, und trieb auf dem Fluss, bis die Gewalt der Strömung schließlich nachließ. Der reißende Fluss wurde allmählich wieder zu einem Bach, und es gelang ihr, das Ufer zu erreichen. Erschöpft lag sie zitternd auf dem flachen Kieselstrand. Ebenso plötzlich, wie das Gewitter begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. Der Regen wurde schwächer und hörte schließlich auf. Als hätte der schreckliche Tumult überhaupt nicht stattgefunden, schien die Sonne, und die grauen Wolken zogen weiter gen Westen. Die Luft war klar und frisch. Viviana blickte in den blauen Himmel. Fast hätte sie sich erinnert. Sie hatte ihr Gedächtnis im
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