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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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sie deshalb sachlich und wies auf die Papiere in seiner
    Hand.
    »Ja.« Zögernd legte er den Stapel auf den Küchentisch. Wieder sah er sich um, als erwarte er,
    jeden Moment könne jemand hereinkommen. »Es ist etwas, das ... nun, eigentlich gehört es,
    glaube ich, in die Hände der Polizei, aber ... «
    »Aber?«
    »Aber ich denke, es steht mir nicht zu, das zu entscheiden. Sie sind Fionas Enkelin. Sie müssen
    wissen, wie damit zu verfahren ist.«
    »Was ist es denn?« Er senkte seine Stimme. »Textdateien. Angehängt an E-Mails, die Fiona Barnes
    an Chad Beckett geschickt hat.« Sie sah ihn überrascht an. »Chad Beckett kann mit einem
    Computer umgehen? Und hat eine E-Mail-Adresse?«
    »Umgehen ist wohl nicht ganz das richtige Wort. Aber eine Adresse hat er, ja. Laut Gwen auf
    Fionas hartnäckiges Drängen hin angelegt. Die beiden haben nicht selten miteinander
    kommuniziert.«
    »Und?«
    Colin schien unsicher, wie er formulieren sollte, was er sagen wollte.
    »Fiona und Chad kannten einander ja seit Kindertagen. Und - wohl aus dem Bedürfnis heraus,
    bestimmte Vorgänge für sich noch einmal zu erklären - Fiona hat ihrer beider Geschichte
    aufgeschrieben. Zumindest in den für sie wesentlichen Punkten. Mit einem eigenartigen Titel,
    dessen Rätsel sich jedoch beim Lesen löst. Das andere Kind. Sie taucht noch einmal in die Vergangenheit, schildert die erste Begegnung,
    Sie wissen ja, die Evakuierung aus London, ihre Aufnahme hier auf der Beckett-Farm ...
    «
    Leslie war jetzt sehr aufmerksam und von wachsender Irritation erfüllt. »Ich kenne die
    Geschichte. Fiona hat sie mir oft erzählt. Wie rührend, sie für sich und Chad noch einmal
    aufzuschreiben. Aber ich verstehe nicht ganz ... wie kommt sie als Ausdruck in Ihre Hände? Sind
    das nicht Dokumente, die nur für Chad bestimmt waren?«
    »Mit Sicherheit waren sie das. Das wird einem besonders klar, wenn man sie liest. Die
    Geschichte der beiden. Wenn man liest, wie sie wirklich war.«
    »Wie sie wirklich war?«
    »Ich bin ziemlich sicher«, sagte Colin langsam, »dass Sie eine zensierte Fassung zu hören
    bekommen haben, wenn Ihre Großmutter Ihnen davon erzählte. Genauso, wie Gwen nur Teilwahrheiten
    kannte. Und damit wir alle.«
    Leslie kam ein Gedanke, und trotz ihres Kummers musste sie lächeln. »Sie meinen, dass Fiona und
    Chad ein Verhältnis hatten? Beschreibt meine Großmutter wilde Orgien in irgendwelchen
    Heuschobern? Wissen Sie, davon hat sie natürlich nie etwas erzählt, aber ich war schon immer
    überzeugt, dass sie und Chad etwas miteinander hatten. Das schockiert mich nun nicht unbedingt.
    Und die Polizei würde es, denke ich, kaum weiterbringen.«
    Er sah sie sehr seltsam an. »Lesen Sie. Und dann entscheiden Sie, was zu tun ist.«
    Sie erwiderte seinen Blick nun sehr kühl.
    »Woher haben Sie das? Wie sind Sie an Chads E- Mails gelangt?«
    »Gwen«, sagte er.
    »Gwen?«
    »Sie benutzt denselben Computer wie ihr Vater. Sie hat wohl ein wenig ...
    zu spionieren versucht. Jedenfalls war es nicht schwer für sie, das Passwort zu enträtseln, mit
    dem er seinen Posteingang schützt. Fiona. So lautet es.«
    Leslie schluckte.
    Er hatte sie geliebt. Sie hatte das immer geahnt.
    »Und dann hat sie in seinen Mails geschnüffelt?«
    »Sie hat die Dateien geöffnet und die Geschichte gelesen. Und am Ende war
    sie so schockiert, dass sie alles ausdruckte. Sie hat es Jennifer gleich nach unserer Ankunft
    letzte Woche hier auf der Farm zu lesen gegeben. Gestern früh reichte Jennifer die Blätter an
    mich weiter, mit Gwens Einverständnis. Zu diesem Zeitpunkt ahnte allerdings noch keiner von uns etwas von dem Verbrechen. Ich habe gestern und in der
    letzten Nacht alles gelesen.« »Verstehe. Drei Menschen wissen jetzt ganz genau über all die
    Dinge Bescheid, die eigentlich nur Fiona und Chad etwas angehen?«
    »Lesen Sie«, bat Colin noch einmal.
    Sie spürte, wie Wut in ihr keimte, auch Fassungslosigkeit. Welch ein Verrat an zwei alten
    Menschen, die nostalgisch ihrer Vergangenheit nachhingen. Dass Gwen sich nicht hatte enthalten
    können, die Lebensgeschichte ihres Vaters zu lesen, nachdem sie ihr schon einmal auf die Spur
    gekommen war, konnte sie gerade noch verstehen. Aber hatte sie zwei Fremde daran teilhaben
    lassen müssen? Ihre Freundschaft mit den Brankleys mochte langjährig und intensiv sein, dennoch
    handelte es sich bei ihnen nicht um Mitglieder der Familie. Sie hätte ihre Großmutter gern
    beschützt, aber sie wusste, dass es zu

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