Das Arrangement
hatte ihre Stärke immer bewundert. Eine andere Frau hätte ihm womöglich gestattet, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, selbst Alison. Doch diese hier nicht. Sie hätte ihn in eine Salzsäule verwandelt.
Sie blieb einen Meter vor ihm stehen und hob einen Schal hoch, der in allen Regenbogenfarben schimmerte und mit langen weißen Troddeln besetzt war.
“Marnie, was ist los?”
“Ihr Tuch hat sie nicht mitgenommen. Sie ist nie ohne ihr Tuch weggegangen.”
“Das gehört deiner Großmutter?”
Marnie lockerte den Griff um den empfindlichen Seidenstoff und versuchte die Knitterfalten zu glätten. Die Troddeln schwenkten dabei hin und her und waren ihr im Weg.
Andrew kam ihr nicht zu Hilfe. Das war geheiligtes Territorium.
“Sie hätte es niemals hiergelassen”, sagte Marnie. “Der Schal hat ihrer Tante gehört, und in der Beziehung war sie ziemlich abergläubisch.”
Jetzt versuchte sie den dünnen Stoff sorgfältig zusammenzulegen, damit man ihn besser transportieren konnte.
“Lass uns zur Veranda gehen und etwas reden”, schlug er vor.
“Nein, ich kann nicht.”
Das dunkle Haar rutschte nach hinten und gab ihr Gesicht frei. Sie sah ihn mit großen, verletzlichen Augen skeptisch an. Die Intensität ihres Blicks war ihm manchmal fast unheimlich, dieser kühle Argwohn in den Augen, diese abwehrend und kämpferisch verzogenen Lippen. Sie war ungezähmt, verängstigt – und beängstigend. Doch es war die Art von Angst, die einen Mann anzog, ihn herausforderte wie die Sirenen auf dem Felsen, die den Seemännern Einladungen zuriefen und drohten, sie zu vernichten, wenn sie sie annahmen.
Ihr Anblick erregte ihn, und er hasste sich für diese Reaktion. So etwas sollte er lieber bleiben lassen, er durfte noch nicht einmal in dieser Richtung denken.
“Irgendwas Schreckliches ist meiner Großmutter zugestoßen”, sagte sie. “Sie ist verschwunden und hat nichts hinterlassen, was mir irgendwelche Hinweise geben könnte. Keine Nachricht.”
“Warum sollte sie dir eine Nachricht hinterlassen, Marnie?”, sagte er ruhig. “Sie denkt doch, du seist tot.”
Sie verzog schmerzhaft das Gesicht bei der Bemerkung, redete aber weiter. “Sie hat meiner Freundin LaDonna gesagt, dass sie in eine Art Krankenhaus geht, aber ich finde keine Hinweise darauf, keine Telefonnummer, keine Adresse von irgendeinem Arzt.”
“Es wird sicher nicht so schwierig sein, sie zu finden. So viele Krankenhäuser gibt es in dieser Gegend nicht.”
Er war nicht sicher, ob sie ihm zugehört hatte. Er sah zu, wie sie sich den Schal unter den Arm klemmte, und dachte nur, wie jung sie doch war. Nicht wie jung sie aussah. Sie
war
jung, zweiundzwanzig und vermutlich ohne große Erfahrung. Seit dem Tag, als er Butch und seine Kumpane von ihr weggejagt hatte, schien sie kaum gealtert zu sein. Doch das war Marnie gewesen, und dies hier war Alison. Alison mit Marnies Augen und Marnies Seele.
Es war erstaunlich, wie der Charakter das Gesicht verändern konnte.
“Wenn ich mein eigenes Leben ruiniere, ist das eine Sache”, sagte sie. “Ich muss damit leben und mit dem, was ich Butch angetan habe. Aber niemals wollte ich sie verletzen. Sie hat ihr ganzes Leben dafür gegeben, um mich großzuziehen.”
Andrew blickte an ihr vorbei zum Haus und zu dem kleinen Eichenwäldchen dahinter. Er fragte sich, ob sie zu der Senke hinübergelaufen war und sich dem Horror gestellt hatte. Das wäre eine Erklärung für ihren Zustand.
“Es wird spät”, sagte er. “Lass uns langsam zurückgehen.”
Sie betrachtete sein Gesicht, als suche sie nach etwas, ohne jedoch große Hoffnung zu haben, es zu finden. Konnte man ihm trauen? Konnte man irgendjemandem trauen?
Angst. Dieses Gefühl schien ihr Leben zu bestimmen. Er fühlte sich vollkommen hilflos, als er die Verzweiflung in ihrem Gesicht sah. Und Himmel noch mal, er hasste es, hilflos zu sein.
“Ich werde deine Großmutter finden”, sagte er. “Das verspreche ich dir.”
Eine Gänsehaut überlief ihre nackten Arme. Es sah fast schmerzhaft aus. Sie wandte den Blick ab, nickte aber. Er war sich nicht sicher, was das bedeuten sollte.
“Gehen wir”, sagte sie.
Das Licht schwand schnell, während sie den Weg zurückliefen, und am Strand hielten sich nur noch ein paar hartnäckige Surfer auf und einige Familien, die gerade dabei waren aufzubrechen. Es war zu spät, um zu schwimmen, und noch zu früh für ein Lagerfeuer. Deshalb war es ruhig und friedlich, aber auch ein wenig einsam.
Sie
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