Das Beil von Wandsbek
Schuldgefühl umsponnen, besann sich: wovon hatte ihr der arme Mengers erzählt, woran arbeitete er?
Wozu wollte er noch einen zweiten Bogen Papier anfordern? »Den Karl-Marx-Film, ach ja. Läse ich gern einmal.« – »Karl-Marx-Film?« erstaunte Koldewey am
anderen Ende des Drahtes. »Nicht daß ich wüßte. Seine Notizen beziehen sich auf die Lebensbeschreibung eines Berliner Anwalts und Abgeordneten,
weimarischer Prägung, judäischen Gewächses.« Jetzt war Käte Neumeier wach und Herrin ihres Gedächtnisses. Der arme Junge hatte das Leben, das sehr
aufschlußreiche, des kommunistischen Abgeordneten Doktor Paul Levi schildern wollen, der eines überraschenden Fiebertodes gestorben war, nach Jahren
befremdlichen Schwankens zwischen seinem Dasein als kulturvoller und kulturfroher berlinischer Anwalt und den Pflichten eines proletarischen Abgeordneten
aus Hindenburgs Reich. Zugleich vermerkte sie, halb bewundernd und halb voll Erbarmen, daß ihr Freund seinem eigenen Telephon nicht trauen durfte. Er
vermied den Namen Levi und sie auch. Zugleich aber erstand vor ihrem Auge die ganze Szene wieder, die hohe Stimme des armen Mengers, sein länglicher Hals,
seine merkwürdigen weiß-und-braunen Augen, und daß er das Manuskript zu diesem Film irgendwo in Glasmoor versteckt habe. »Hätten Sie heute zufällig in der Stadt zu tun und könnten mir dieFreude machen oder vielmehr meiner Marie, bei mir zu speisen ...?« In der Tat, Herr Koldewey hatte vormittag amtlich im Senat zu tun. Der regierende Bürgermeister bedurfte der Unterstützung seiner erfahreneren Beamten, um Ansprüche der Partei und des Militärs einzudämmen. Der Flughafen Fuhlsbüttel erwies sich als zu klein und sollte jetzt nach der falschen Richtung hin erweitert werden. Statt auf Niendorf zu, wollte man ihn aus verkehrstechnischen Gründen näher zur Stadt ziehen, wogegen vieles, wenn nicht alles sprach. »Aber mache ich Ihnen nicht viel Scherereien, Käte? Frühstücken wir nicht lieber im Alsterpavillon?« Seit jener Blumenausstellung im vorigen Herbst, an einem denkwürdigen ›Tag danach‹, wirkte in Käte Neumeier eine tiefe Ablehnung dieser hübschen Gaststätte, sie hatte sie nie wieder betreten. »Seien Sie lieber bei uns zu Tisch, mein Freund«, entgegnete sie, »verkürzen wir uns die Mittagspause nicht durch Fahrerei.« Es war Zeit genug, mit Marie einen Küchenzettel zu besprechen und sie in der Wandsbeker Chaussee geeignetes Fleisch einkaufen zu lassen, nicht in der Wagnerstraße, nicht bei Teetjen. Anderseits wäre es reizvoll gewesen, einmal Kundschafter auszuschicken, ob Tom Barfeys Saat schon sproßte.
Nach dem Essen, auf ihrem grünen und braunen Teppich, sogar eine grün beringte braune Zigarre hatte sie bereit, brachte sie ihre Erinnerung vor und in Ordnung. Diesen Karl-Marx-Film hatte der junge Mengers während der langen Untersuchungshaft verfaßt, in Glasmoor, der modernen Musteranstalt, und daselbst irgendwo versteckt – wo, hatte er ihr nicht gesagt. Waren sie ihm irgend etwas schuldig für den Dienst, den er ihnen und der guten Sache durch die Stiftung seiner Bibliothek erwiesen, so mußten sie diesem Manuskript nachforschen. Niemand konnte das, wenn nicht Herr Koldewey persönlich. Falls es stimmte, daß er auf gewisse Weise für Fuhlsbüttel selbst die Gestapo vertrat. »Eine Verlobungsreise nach Glasmoor«, sagte er, »auf der Suche nach einer verlorenen Handschrift, wie es bei Spielhagen heißen würde.« Kannte Käte diesen Roman, diesen Verfasser? Ihrer Mutter hatte sein Name bestimmt etwas angedeutet. »Von Spielhagen«, begehrte sie auf, »die Verlorene Handschrift stammt von Gustav Freytag.« Herr Koldewey bestritt diese Behauptung, aber KäteNeumeier, ihrer Sache sicher, weil sie den Roman in der Prima als sogenannte Privatlektüre, aber als Unterrichtsstoff gelesen hatte, schlug ihn, ein Lexikon auf den Tisch legend, durch Druck und Daten. Er wunderte sich, gab aber zu, diese populären Schriftsteller hätten in seinem Leben nur eine untergeordnete Rolle gespielt. »Weswegen ich mich jetzt mit ›Mein Kampf‹ beschäftigen muß. Nostra culpa. Nostra maxima culpa. Wir haben unsere Bildungswelt wie eine Blase über dem geistigen Niveau des Volkes gewölbt.« – »Sagen wir der Massen«, warf Käte Neumeier ein, »und dürfen uns nicht wundern, wenn sie so fürchterlich einstürzen konnte.« – »Aber was machen wir mit dieser hübschen Wohnung, wenn unser Bündnis bürgerliche Formen annimmt?«
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