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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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kahlen, abgestorbenen Sträucher ... Und hier sollte sie ihren Pan allein zurücklassen? Wie hätte er ohne sie leben können? Der Dæmon bibberte in ihrem Hemd und presste sich auf der Suche nach Wärme gegen ihre nackte Haut. Nein, unmöglich! Niemals!
    »Der muss hier bleiben, wenn du mitkommen willst«, wiederholte der Fährmann.
    Lady Salmakia gab ihrer Libelle die Sporen, und sogleich hob das Insekt von Lyras Schulter ab und flog auf den Dollbord des Ruderbootes, wo sich kurz darauf auch Tialys einfand. Die Gallivespier redeten mit dem Fährmann. Lyra beobachtete sie wie eine Verurteilte, die eine Unruhe hinten im Gerichtssaal bemerkt und hofft, ein Bote bringe die Nachricht von ihrer Begnadigung.
    Der Fährmann neigte sich vor und lauschte, schüttelte aber dann den Kopf.
    »Nein«, sagte er. »Wenn sie mitkommt, bleibt der hier.«
    »Das ist ungerecht«, sagte Will. »Wir müssen keinen Teil von uns selbst zurücklassen. Warum also Lyra?«
    »Oh, aber das tut ihr auch«, sagte der Fährmann. »Lyras Unglück besteht darin, dass sie ein lebendiges Wesen zurücklassen muss, mit dem sie sprechen kann. Ihr hingegen werdet den Verlust erst bemerken, wenn ihr auf dem Wasser seid, und dann ist es zu spät. Ihr alle müsst etwas von euch zurücklassen. Für solche wie ihn gibt es keine Überfahrt ins Land der Toten.«
    Nein, dachte Lyra, und Pantalaimon dachte wie sie: Wir sind nicht nach Bolvangar gegangen, um uns jetzt trennen zu lassen. Und überhaupt, wie sollten wir uns jemals wieder finden?
    Wieder wanderte ihr Blick am öden Ufer entlang, das so düster und mit Krankheit verpestet vor ihnen lag. Da dachte sie an ihren lieben Pan, wie er allein hier auf sie wartete, wie ihr Herzensfreund sie langsam im Nebel verschwinden sah. Und sie brach in Tränen aus. Ihre Schluchzer verhallten ohne Echo, denn der Nebel verschluckte sie, aber alle Wesen, die die Tümpel, Pfützen und modrigen Baumstümpfe dieses trostlosen Landstrichs bewohnten, hörten ihre Verzweiflung und duckten sich, erschrocken über so viel Leidenschaft, näher an die Erde.
    »Lassen Sie ihn doch mitkommen ...«, flehte Will ganz verzweifelt über Lyras Qual. Doch der Fährmann schüttelte den Kopf.
    »Der kann ins Boot steigen, aber dann bleibt auch das Boot hier«, beschied er ihn.
    »Aber wie wird sie ihn jemals wieder finden?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Wenn wir das Land der Toten verlassen, kommen wir dann wieder hier vorbei?«
    »Verlassen?«
    »Wir kehren wieder zurück. Wir gehen ins Land der Toten und kommen wieder zurück.«
    »Nicht auf diesem Weg.«
    »Dann eben auf einem anderen, aber wir finden hinaus.«
    »Ich habe Abertausende übergesetzt, und keiner ist jemals zurückgekommen.«
    »Dann werden wir eben die Ersten sein. Wir finden schon einen Weg zurück. Und weil wir so fest entschlossen sind, Fährmann, habe doch ein Einsehen und lass sie ihren Dæmon mitnehmen!«
    »Nein«, sagte er und schüttelte sein uraltes Haupt. »Das ist keine Regel, die man brechen könnte, sondern ein unumstößliches Gesetz wie das hier ... « Er lehnte sich über Bord, schöpfte mit der hohlen Hand etwas Wasser und neigte dann die Hand, so dass das Wasser herauslief. »Das Gesetz, wonach dieses Wasser wieder in den See zurückfließen muss, wenn ich die Hand neige, vermag man nicht umzukehren. Ich kann nicht die Hand neigen und das Wasser nach oben fließen lassen. Genauso wenig kann ich den Dæmon ins Land der Toten mitnehmen. Will sie mitkommen, muss der hier bleiben.«
    Lyra bekam nichts davon mit, weil sie ihr Gesicht in Pantalaimons Katzenfell vergraben hatte. Doch Will bemerkte, wie Tialys von seiner Libelle abstieg und sich bereitmachte, auf den Fährmann zu springen, und der Junge war schon fast mit dem Plan des Gallivespiers einverstanden.
    Doch der alte Mann hatte den Spion ebenfalls gesehen und sein Ansinnen erkannt.
    »Was glaubt ihr, wie viele Jahrhunderte lang ich schon Menschen ins Land des Todes bringe? Meint ihr, wenn man mich durch irgendetwas verwunden könnte, wäre das nicht schon längst geschehen? Glaubt ihr, die Menschen, die ich in mein Boot nehme, kommen freudig mit mir? Sie wehren sich und weinen, sie versuchen mich zu bestechen, sie drohen mir und kämpfen; alles vergebens. Stecht nur zu, ihr könnt mich nicht verletzen. Tröstet lieber das Kind. Da kommt sie nämlich. Auf mich braucht ihr jetzt nicht mehr zu achten.«
    Will konnte kaum hinsehen. Lyra tat das Grausamste, wozu sie sich hatte durchringen können. Sie hasste

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