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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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jedes Mal, wenn sie sich bewegte, wehte ein fauliger Gestank heran.
    Will und Lyra, die beide mit einem beklemmenden Schmerz kämpften, versuchten gerade zu stehen und ihr ins Gesicht zu schauen.
    »Aber ihr lebt ja noch!«, rief die Harpyie mit rauer, höhnischer Stimme.
    Will spürte, dass er sie mehr fürchtete und hasste als alle Menschen, denen er bisher begegnet war.
    »Wer bist du?«, fragte Lyra, die sich ebenso abgestoßen fühlte wie Will.
    Zur Antwort gab die Harpyie einen Schrei von sich. Sie riss den Mund auf und kreischte ihnen so laut ins Gesicht, dass ihnen der Kopf dröhnte und sie beinahe zu Boden gegangen wären. Will umklammerte Lyra und beide hielten sich in den Armen, als der Schrei zu einem wilden Hohngelächter wurde, auf das andere Harpyien-Stimmen aus dem Nebel antworteten. Der höhnische, hasserfüllte Laut erinnerte Will an die gnadenlose Grausamkeit, mit der sich Kinder manchmal auf dem Sportplatz verfolgten, doch gab es hier keinen Lehrer, der zur Ordnung rief, und auch sonst niemanden, an den man sich wenden konnte, und keinen Ort zum Verstecken.
    Der Junge legte die Hand an die Messerscheide und schaute der Harpyie gerade in die Augen, obgleich ihm die Macht ihres Schreis Kopfschmerzen und Schwindel verursachte.
    »Wenn du uns in den Weg treten willst«, warnte er sie, »solltest du bereit sein, zu kämpfen und nicht nur zu schreien. Wir gehen jetzt nämlich durch diese Tür.«
    Der widerliche rote Mund der Harpyie bewegte sich wie der, aber diesmal stülpte sie die Lippen zu einem höhnischen Kuss vor. Dann sagte sie: »Deine Mutter ist allein. Wir werden ihr Albträume schicken und sie mit unseren Schreien im Schlaf schrecken!«
    Will reagierte nicht, denn aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sich Lady Salmakia vorsichtig an dem Gesims entlangbewegte, auf de m die Harpyie saß. Ihre Libelle, deren Flügel vor Unruhe vibrierten, wurde von Tialys gehalten. Dann geschah zweierlei: Die Lady griff die Harpyie an und suchte nach einer Gelegenheit, ihr die Sporen in die schuppigen Beine zu stechen, und gleichzeitig ließ Tialys die Libelle losfliegen. In kürzester Zeit drehte sich Salmakia, sprang vom Stein direkt auf ihr blau schillerndes Flugtier und flog davon.
    Die Reaktion der Harpyie folgte auf dem Fuß. Ein Schrei, noch viel lauter als der erste, zerriss die Stille und dazu schlug sie so heftig mit ihren dunklen Flügeln, dass Will und Lyra den Wind zu spüren bekamen und wankten. Aber sie blieb auf dem Gesims sitzen, auch wenn ihr Gesicht vor Zorn dunkelrot anlief und ihr Haar wie die Schlangen eines Gorgonenhauptes abstand.
    Will zog an Lyras Hand und beide versuchten die Tür zu öffnen. Außer sich vor Wut schlug die Harpyie erneut nach den Kindern und wich erst zurück, als Will das Messer gegen sie richtete.
    Die Gallivespier griffen sie erneut an, schossen nahe an ihr Gesicht heran und flüchteten sofort wieder. Zwar gelang es ihnen nicht, mit den Sporen zuzustechen, aber die Harpyie geriet durch ihre Angriffe so sehr durcheinander, dass sie nur ungeschickt mit den Flügeln schlug und beinahe von ihrem luftigen Sitz gefallen wäre.
    »Tialys! Salmakia! Genug!«, rief Lyra.
    Die Spione wandten sich ab und flogen hoch über den Köpfen der Kinder. Andere dunkle Halbwesen tauchten im Nebel auf, und der Schrei von Hunderten weiterer hallte vom fernen Ufer herüber. Die erste Harpyie schlug die Flügel, schüttelte das Haar, streckte erst das eine, dann das andere Bein und zeigte die Krallen. Sie war unverletzt geblieben, wie Lyra sogleich bemerkt hatte.
    Die Spione kreisten eine Weile und kehrten dann zu Lyra zurück, die beide Hände für sie ausgestreckt hielt.
    Salmakia verstand, warum Lyra sie zurückgerufen hatte.
    »Sie hat Recht«, sagte sie zu Tialys. »Wir können die Harpyie aus irgendeinem Grund nicht verletzen.«
    Lyra wandte sich wieder an das Fabelwesen: »Hast du einen Namen?«
    Die Harpyie breitete die Flügel aus und sogleich wehte die Reisenden ein Ekel erregender, schier den Atem nehmender Gestank von Fäulnis und Verwesung an.
    »Niemand!«, schrie sie.
    »Was willst du von uns?«, fragte Lyra.
    »Was könnt ihr mir geben?«
    »Wir könnten dir erzählen, woher wir kommen und wo wir überall gewesen sind. Das wäre vielleicht unterhaltend für dich. Wir haben auf dem Weg hierher erstaunliche Dinge gesehen.«
    »Aha, du bietest mir an, eine Geschichte zu erzählen.«
    »Wenn dir das gefiele, ja.«
    »Vielleicht will ich das ja tatsächlich. Und was verlangst

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