Das Bernstein-Teleskop
dass sie die je kennen gelernt hätten.
Das Land der Toten ist aber weder ein Ort der Seligwerdung noch der Strafe, sondern eine Ödnis. Die Guten kommen ebenso hierher wie die Bösen und schmachten in dieser Düsternis ohne Hoffnung auf Freiheit und Freude, auf Schlaf, Ruhe oder Friede dahin.
Doch nun ist dieses Kind gekommen und öffnet uns einen Ausweg. Ich bin bereit ihm zu folgen. Selbst wenn der Vergessen bedeutet. Freunde, begrüßt mit mir diesen Ausweg, weil er uns etwas bietet. Wir werden wieder am Leben teilhaben, ob in den Millionen von Grashalmen und Blättern, ob in Regentropfen oder in der frischen Brise. Wir werden im Licht von Mond und Sternen im Tau glitzern und zur physischen Welt gehören, die immer unsere wahre Heimat gewesen ist. Darum ermuntere ich euch alle: Kommt und folgt dem Kind hinaus ins Freie!«
Doch ihr Geist wurde vom Geist eines Mannes weggestoßen. Er hatte das Aussehen eines Mönches, wirkte auch noch im Tod bleich und dünn und starrte mit dunklen fanatischen Augen umher. Der Mann bekreuzigte sich, murmelte ein Gebet und sagte dann:
»Dies ist eine vergiftete Botschaft, um euch zu verderben. Erkennt ihr denn nicht die Wahrheit? Das ist kein Kind, sondern ein Helfershelfer Satans. Die Welt, in der wir lebten, war ein Tränental. Nichts konnte uns dort wirkliche Erfüllung geben. Doch der Allmächtige hat uns dieses gesegnete Land, dieses Paradies, für alle Ewigkeit zugewiesen. Den gefallenen Seelen mag es düster und unfruchtbar erscheinen, aber mit gläubigen Augen betrachtet, zeigt es sich als das, was es ist, ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Der süße Gesang der Engel erfüllt unsere Ohren. Das ist wahrhaft der Himmel. Was uns hingegen dieses Mädchen, diese Botin des Bösen, verheißt, ist nichts als Lüge. Sie will euch in die Hölle führen! Wer mit ihr geht, geht in sein Verderben. Meine Gefährten und ich, die wir im wahren Glauben leben, werden hier in unserem Paradies bleiben und dem Allmächtigen auf ewig Lobhymnen singen, denn er gab uns die Gabe, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden.« Er bekreuzigte sich nochmals, dann wandte er sich gemeinsam mit seinen Gefährten voller Abscheu und Entsetzen ab.
Lyra war verunsichert. Befand sie sich im Irrtum? War sie dabei, einen ungeheuren Fehler zu begehen? Das Mädchen schaute sich um: Wohin man blickte, überall war es düster und trostlos. Aber sie hatte sich auch früher schon vom äußeren Schein täuschen lassen. Sie hatte Mrs. Coulter vertraut, weil sie ein schönes Lächeln hatte und von einer Aura aus Duft und Glanz umgeben war. Wie leicht konnte man sich irren. Ohne ihren Dæmon, der sie sonst geführt hatte, war sie vielleicht auf dem falschen Weg.
Doch Will rüttelte sie am Arm. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und hielt es fest.
»Du weißt doch, dass das nicht wahr ist«, beschwor er sie. »Das ist so klar, wie das, was du jetzt gerade spürst. Lass dich nicht irremachen. Auch die anderen sehen, dass er lügt. Und sie sind auf uns angewiesen. Brechen wir auf«
Das Mädchen nickte. Sie musste ihrem Körper und ihren Sinnesempfindungen einfach glauben; gewiss hätte auch Pan nicht anders gehandelt.
Also zogen sie los und Millionen Geister folgten ihnen.
Hinter ihnen, zu weit entfernt, als dass die Kinder etwas davon bemerken konnten, hatten andere Bewohner des Totenreichs von den jüngsten Ereignissen gehört und schlossen sich nun dem großen Marsch an. Tialys und Salmakia flogen zurück, um zu schauen, was dort vorging, und freuten sich sehr, auch Angehörige ihres Volkes anzutreffen. Neben Gallivespiern fanden sich Vertreter aller mit Intelligenz ausgestatteten Arten, die vom Allmächtigen mit Verbannung und Tod bestraft worden waren. Unter ihnen auch Wesen, die Menschen überhaupt nicht ähnlich sahen, Wesen wie die Mulefa, die Mary Malone erkannt hätte, und noch merkwürdigere Geschöpfe.
Aber Will und Lyra hatten nicht die Kraft zurückzuschauen. Sie konnten nur hinter den Harpyien herziehen und hoffen.
»Haben wir es bald geschafft, Will?«, flüsterte Lyra. »Haben wir es fast hinter uns?«
Er wusste es nicht. Doch sie fühlten sich so schwach und matt, dass er sagte: »Ja, wir haben es fast hinter uns. Bald sind wir wieder draußen..«
Mrs. Coulter in Genf
Mrs. Coulter wartete bis zum Einbruch der Nacht, dann näherte sie sich dem Kollegium des heiligen Hieronymus. Im Dunkeln ging sie mit dem Intentionsgleiter unter die Wolken und flog auf Baumwipfelhöhe
Weitere Kostenlose Bücher