Das Buch des Vergessens
Verletzung seiner Hand in einem Fechtduell, Geigenvirtuose im Ruhestand. Tartini, damals vierundsiebzig Jahre alt, erzählte de Lalande die Geschichte der ›Sonata del Diavolo‹. 1713, als Zweiundzwanzigjähriger, hatte er eines Nachts geträumt, er habe seine Geige dem Teufel gegeben, um zu hören, ob der etwas Schönes darauf spielen konnte. Aus dem Bericht von de Lalande:
Wie groß war sein Erstaunen, als er ihn eine Sonate spielen hörte, die von so erlesener Schönheit in ihrer Ausführung war und so vorzüglich gespielt wurde, dass sie alles übertraf, was er bis dahin gehört hatte. Er war hingerissen, verzaubert, er geriet in Entzücken, sein Atem stockte in seiner Kehle, und durch diese heftigen Gemütsregungen schrak er aus dem Schlaf. Augenblicklich griff er zu seiner Violine, in der Hoffnung, einen Teil der Klänge, die er soeben gehört hatte, festzuhalten. Vergebens. Das Stück, das er damals schrieb, ist das vortrefflichste, das er je in seinem Leben komponiert hat, und er nennt es auch die Teufelstrillersonate, aber es hebt sich so armselig gegen das ab, was er in seinem Traum gehört hatte, dass er am liebsten seine Geige zerschlagen und die Musik für immer und ewig aufgegeben hätte, wenn er sich nur für immer der Mittel hätte versichern können, diese Sonate festzuhalten.
Anmerkung
Es gibt keinen einzigen Grund, zu unterstellen, Tartini habe diesen Traum erfunden, ganz im Gegenteil, er war als zurückgezogener, bescheidener Mann bekannt. Über die Inspiration zu seiner Musik hatte er nie gesprochen, und die Leitsprüche, die er seinen Kompositionen mitgab, zum Teil Anleihen bei Petrarcas Werk, notierte er in einem Code, der erst 1932 entziffert wurde. Die Essenz dessen, was er in dieser Nacht erlebt hatte, könnte Wort für Wort wahr sein: in einem Traum etwas hören, das von außerirdischer Schönheit ist, und im wachen Zustand merken, dass man es nicht festhalten kann. Viele kennen das aus persönlicher Erfahrung, wenn nicht bezogen auf Musik, dann vielleicht auf eine Stimme, ein Gedicht, eine Landschaft, ein Gemälde. Oder man träumt von körperlichen Erfahrungen wie schweben oder fliegen, die man, wieder wach, nicht mehr in ihrer geträumten Intensität reproduzieren kann. Nach einiger Zeit erinnert man sich nicht mehr an die Musik, die Landschaft, das Schweben, sondern an das Entzücken, das man während des Träumens verspürte. Es scheint wirklich ein Teufelspakt: Kaum hat man die Gelegenheit, den Traum im Gedächtnis oder auf Papier festzuhalten, verflüchtigt er sich.
Jeder hat schon einmal nach einem ungewöhnlichen Traum nachseiner Geige gegriffen, und niemandem ist es je anders ergangen als Tartini: Was wir schreibend oder erzählend von diesem Traum reproduzieren konnten, ist nur eine dürftige Wiedergabe dessen, was wir geträumt haben. So überzeugend die Geschichte für den Zuhörenden auch sein mag, der Erzähler spürt nur zu deutlich, wie unzureichend sie ist. Natürlich fällt es auch jemandem, der hellwach hinreißender Musik lauscht, danach noch nicht leicht, diese vollständig zu erinnern oder zu reproduzieren. Auch im wachen Zustand schreiben wir häufig ganze Geschichten mit einem Stift, der sich später als ungespitzt herausstellt. Die Frage ist eher: Warum hat das Gedächtnis so viel mehr Schwierigkeiten mit dem, was wir träumen, als mit dem, was wir im wachen Zustand erleben? Wir müssen nicht erklären, warum wir vergessen, sondern, warum wir gerade Träume so leicht vergessen.
Tagesreste
Neben der Hypermnesie gibt es noch den Tagesrest als zweite Verbindung zwischen Traum und Gedächtnis. Der Begriff ist von Freud, das Phänomen selbst so alt wie der Traum: Nachts tauchen Bruchstücke dessen auf, was uns tagsüber beschäftigt hielt. Das wurde bereits von Forschern vor Freud festgestellt – sowie statistisch belegt – und von moderner Traumforschung bestätigt.
Der Prozentsatz an Tagesresten ist unterschiedlich: Mary Calkins konnte fast alles, was in ihren Träumen geschah, auf tagsüber Erlebtes zurückführen, andere machten einen viel geringeren Anteil an Tagesresten aus. Traumforschung, die Messungen während des REM – Schlafs durchführte, fand einen Höhepunkt von Tagesresten in der erstfolgenden Nacht, danach sank die Anzahl der Elemente, die der Träumende noch mit Ereignissen dieses Tages verbinden konnte, also die von vorgestern, von vor drei Tagen und so weiter, schnell ab. Der französische Traumforscher Jouvet kam in einer Analyse von
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