Das Buch meiner Leben
verschwendet, bis ich in Chicago diese Fotografie sah. Es war völlig ausgehöhlt, getroffen von einer Granate, die im Dach eingeschlagen war. Der Supermarkt existierte nur noch im übervollen Depot meiner Erinnerung.
Manche Häuser erkannte ich, ohne sie genau lokalisieren zu können. Und daneben gab es solche, die mir völlig unbekannt waren – ich konnte nicht einmal sagen, in welcher Gegend sie vielleicht standen. Seitdem habe ich gelernt, dass man nicht jeden Teil einer Stadt kennen muss, damit sie einem gehört, aber die Vorstellung, dass es Teile von Sarajevo gab, die ich nicht kannte und vermutlich nie kennen würde, da die Stadt im Granatenhagel mittlerweile zusammenfiel wie eine Bühnenkulisse, hatte etwas Erschreckendes. Wenn mein Verstand und meine Stadt dasselbe waren, dann war ich im Begriff, den Verstand zu verlieren. Chicago zu meinem persönlichen Raum zu machen wurde nicht nur in einem metaphysischen Sinn, sondern auch psychisch dringend erforderlich.
Im Frühling 1993, nach etwa einem Jahr in Ukrainian Village, zog ich nach Edgewater, einem nördlichen Viertel am Lake Michigan. Ich mietete ein winziges Studio in einem Haus namens » Artists in Residence « ( AIR ), in dem diverse einsame und nicht sonderlich erfolgreiche Künstler wohnten. In der Anonymität der Großstadt war das AIR so etwas wie eine lockere Gemeinschaft. Es verfügte über einen Probenraum für Musiker, Tänzer und Schauspieler, und für diejenigen, die sich als Schriftsteller einen Namen machen wollten, gab es einen Gemeinschaftscomputer. Der Hausverwalter hieß sinnigerweise Art.
Edgewater war der Ort, den man damals aufsuchte, wenn man sich mit billigem (und schlechtem) Heroin versorgen wollte. Man hatte mich vor der Gegend gewarnt, aber was ich dort sah, waren Formen von Verzweiflung, die sich von der meinen nicht groß unterschied. Eines Tages sah ich auf der Winthrop Avenue eine Frau auf einem Fenstersims, die sich überlegte, ob sie hinunterspringen sollte, während ein paar Typen ihr von unten » Spring! « zuriefen. Das war natürlich die reinste Niedertracht, aber ihr Vorschlag schien mir damals eine vernünftige Lösung für das Problem zu sein, das wir Leben nennen.
Ich arbeitete noch immer bei Greenpeace, klapperte jeden Tag ein anderes Viertel ab, war mit vielen schon allzu vertraut. Allabendlich kehrte ich in das Studio in Edgewater zurück, das ich als mein Zuhause bezeichnen konnte und wo ich mit der Zeit tröstende Rituale entwickelte. Vor dem Schlafengehen hörte ich den irren Monolog eines zugedröhnten Typen an der Ecke, gelegentlich überdeckt vom Geräusch der Züge, die auf den Hochbahngleisen vorbeidonnerten. Morgens, mit einem Kaffee am Fenster, beobachtete ich die Leute auf dem Bahnhof Granville, erkannte vertraute Gesichter. Manchmal frühstückte ich bei Shoney’s am Broadway (existiert schon lange nicht mehr), wo es für 2,99 Dollar eine All-You-Can-Eat-Offerte gab für Leute wie mich und die geifernden Bewohner eines Pflegeheims in Winthrop, die, Hand in Hand wie eine Schulklasse, en masse dort erschienen. Bei Gino’s North, wo es nur eine Sorte Bier vom Fass gab und so mancher Künstler sich volllaufen ließ, sah ich den siegreichen Bulls zu und schlug nur die wenigen ab, die noch imstande waren, die Ellbogen vom Tresen zu heben. In einem Coffeeshop in Rogers Park, gleich neben einem Kino, spielte ich am Wochenende Schach, oft mit einem alten Assyrer namens Peter, der, wenn er mich in eine haltlose Lage gebracht hatte und ich kapitulieren wollte, immer denselben Witz machte: » Kann ich das schriftlich haben? « Aber von mir bekam er nichts Schriftliches. In meiner abgrundtiefen Heimatlosigkeit konnte ich weder Bosnisch noch Englisch schreiben.
Allmählich erkannten mich die Leute in Edgewater, wir grüßten uns auf der Straße. Mit der Zeit hatte ich meinen Friseur und meinen Metzger und mein Kino und meinen Coffeeshop mit einer bunten Truppe von Stammkunden – die, wie ich in Sarajevo gelernt hatte, die notwendigen Knoten in jedem urbanen Beziehungsnetz sind. Ich erkannte, dass der Prozess, eine amerikanische Stadt in einen Raum zu verwandeln, den man sein Eigen nennen konnte, von einem bestimmten Viertel ausgehen musste. Für mich war das Edgewater, in dem ich bald heimisch wurde. Nun verstand ich auch, was Nelson Algren meinte, als er schrieb, Chicago zu lieben sei, als liebe man eine Frau mit einer gebrochenen Nase – ich verliebte mich in die gebrochenen Nasen von Edgewater. Auf
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