Das Echo aller Furcht
Hauptfach waren U-Boote, sein Nebenfach die Aufklärung. Er hatte bereits zwei Jahre in Suitland im Staat Maryland gedient; dort befindet sich die Zentrale des Nachrichtendienstes der Marine. Hier in Washington war wenigstens die Fahrt zum Arbeitsplatz nicht so weit – er hatte ein Diensthaus auf dem Luftstützpunkt Bolling, und der Weg zu seinem reservierten Parkplatz im Pentagon war nur ein Katzensprung über I-295/395.
Früher war der Dienst im NMCC relativ aufregend gewesen. Er dachte an den Abschuß der koreanischen Passagiermaschine durch die Sowjets und andere Vorfälle, und während des Golfkriegs mußte es hier herrlich chaotisch zugegangen sein – wenn der Offizier vom Dienst nicht gerade die endlosen Anrufe Neugieriger beantwortet hatte, die die Nummer des Direktanschlusses ergattert hatten. Aber nun?
Nun war der Präsident, den er gerade im Fernseher gesehen hatte, im Begriff, die größte politische Bombe der Welt zu entschärfen. Rosselli konnte sich darauf gefaßt machen, bald nur noch Anrufe entgegenzunehmen, in denen es um Kollisionen auf See, Flugzeugabstürze oder Verkehrsunfälle beim Militär ging; ernste Fälle gewiß, aber für einen Mann seines Kalibers nicht gerade interessant. Hier saß er also. Der Papierkrieg war erledigt; das hatte Jim Rosselli bei der Navy beigebracht bekommen. Sein Stab war sehr tüchtig und half ihm bei der Bearbeitung des Verwaltungskrams. Seine Hauptbeschäftigung für den Rest des Tages war nun Herumsitzen und Abwarten, daß etwas passierte. Der Haken war nur, daß Rosselli ein Macher war, dem die Warterei auf den Geist ging. Und wer konnte sich schon auf Katastrophen freuen?
»Sieht so aus, als würden wir heute mal wieder’ne ruhige Kugel schieben«, bemerkte Lieutenant Colonel Richard Barnes, Rossellis Erster Offizier, der bisher bei der Air Force F-15 geflogen hatte.
»Wohl wahr, Rocky.« Muß er mir das noch unter die Nase reiben? fragte sich Rosselli grimmig und schaute auf die Uhr. Eine Schicht dauerte zwölf Stunden; er hatte also noch fünf Stunden Dienst zu schieben. »Tja, auf der Welt ist bald nicht mehr viel los.«
»Stimmt.« Barnes wandte sich wieder seinem Monitor zu. Na, ich hab’ wenigstens überm Golf zwei MiG abgeschossen, dachte er, immerhin etwas.
Rosselli stand auf und beschloß, sich die Beine zu vertreten. Für die anderen Offiziere war das ein Zeichen, daß er ihnen über die Schulter schauen und sich vergewissern wollte, ob sie überhaupt etwas taten. Ein hoher Zivilbeamter beschäftigte sich demonstrativ weiter mit dem Kreuzworträtsel der Washington Post. Er hatte gerade »Mittagspause« und aß lieber am Schreibtisch als in den fast leeren Kantinen. Hier im NMCC konnte er wenigstens fernsehen. Rosselli ging in den angrenzenden Raum, wo die Anlage für den Heißen Draht stand. Zur Abwechslung tat sich dort etwas. Das Klingeln einer kleinen Glocke kündigte den Eingang einer Nachricht an. Was der Drucker ausspuckte, ergab keinen Sinn, aber die Dechiffriermaschine produzierte einen russischen Klartext, den ein Marineinfanterist übersetzte:
Du glaubst zu wissen, was echte Angst bedeutet?
Ja, das bildest du dir ein, aber ich habe meine Zweifel.
Gut, wenn du im Keller sitzt und rundum die Bomben fallen,
Wenn die Häuser lodern wie Fackeln,
Glaube ich wohl, daß Angst und Entsetzen dich packen,
Denn solche Augenblicke sind schrecklich, solange sie währen.
Doch wenn die Entwarnung kommt – ist alles wieder gut –
Du almest tief durch, der Druck ist gewichen,
Aber die echte Angst liegt wie ein Stein tief in deiner Brust
Verstehst du mich? Wie ein Stein. Und nichts anderes.
»Ilja Selwinskij«, sagte der Lieutenant von den Marines.
»Wie bitte?«
»Ilja Selwinskij, ein russischer Lyriker, der im Zweiten Weltkrieg eine Reihe berühmter Gedichte schrieb. Dieses hier kenne ich – es heißt Sprach, ›Angst‹.« Der junge Offizier grinste. »Mein Pendant am anderen Ende ist literarisch gebildet...« NACHRICHT EMPFANGEN. DER REST DES GEDICHTS IST NOCH BESSER, ALEXEJ, tippte der Lieutenant. ANTWORT KOMMT GLEICH.
»Was senden Sie zurück?« fragte Rosselli.
»Heute vielleicht etwas von Emily Dickinson. Interessante Frau, hatte eine morbide Ader und eine wüste Metrik. Nein, lieber was von Edgar Allan Poe. Der ist drüben sehr beliebt. Mal sehen, was senden wir denn...?« Der Lieutenant nahm ein Buch aus der Schreibtischschublade.
»Warum wählen Sie Ihre Antwort nicht im voraus?« fragte Rosselli.
Der Marine grinste
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