Das Echo der Flüsterer
Geheimdokumente zu vernichten. Offenbar nehme man an, die Vereinigten Staaten würden in Kürze militärisch gegen Kuba und die sowjetischen Schiffe vorgehen, die sich dem Blockadegürtel näherten.
Die Sitzung des Exekutivkomitees dauerte gerade erst eine Viertelstunde, als Limmi in den Raum gerannt kam. Er war inzwischen so etwas wie ein Botengänger für die Flüsterer in der großen Höhle und für die Gruppe an Keldins Spiegel geworden.
»Was ist los?«, fragte ihn Lischka, der den jungen Flüsterer stets wie seinen Sohn behandelte.
»Es hat einen ›Unfall‹ gegeben. Genau so hat es Fargon ausgedrückt. Er gehört zu Ximons Flüsterergruppe.«
»Was hat Fargon beobachtet?«, fragte Ximon sofort.
»Es handelt sich um ein amerikanisches Flugzeug. Es ist in den sowjetischen Luftraum eingedrungen.«
»Es ist was?« Lischkas Stuhl polterte zu Boden, er war entsetzt aufgesprungen. »Haben die Sowjets schon davon Wind bekommen?«
»Noch nicht«, antwortete Limmi eingeschüchtert.
Lischkas rundes Gesicht wurde rot. »Wissen die denn nicht, dass man das als einen Angriff auffassen kann? Wenn die Russen jetzt ihre Raketen zünden, dann wundert mich gar nichts mehr.« Von gerechtem Zorn getragen stob Lischka davon, dicht gefolgt von Ximon.
Die übrigen Spiegel-Gucker trafen, geführt von Limmi, einige Augenblicke später bei den Facetten ein, die das dramatische Geschehen aufgedeckt hatten. Der Flüsterer, den Limmi Fargon genannt hatte, wisperte schon eindringlich in den Kristall. Er versuchte den Piloten auf seinen Navigationsfehler aufmerksam zu machen. An verschiedenen anderen Facetten arbeiteten mehrere Flüsterer fieberhaft daran, weitere Menschen zur Bereinigung der gefährlichen Situation zu gewinnen. Nachdem Ximon einige Anweisungen ausgegeben hatte, humpelte er, so schnell er konnte, mit den anderen wieder zum Felsenraum mit Keldins Spiegel zurück.
In atemberaubendem Tempo tauchten vor Jonas’ Augen die verschiedensten Menschen auf. Die meisten ließ Ximon links liegen, nur zu wenigen sprach er direkt. Dann rief er das Bild des Piloten der verirrten U-2-Maschine in den Spiegel.
Der U-2-Aufklärer gehörte zum Strategic Air Command und war von einer Basis in Alaska aufgestiegen und über der Chukotski-Halbinsel unbeabsichtigt in den sowjetischen Luftraum eingedrungen. Es handelte sich dabei um einen reinen Routineflug. Als der Pilot – angestoßen von einem merkwürdigen Geistesblitz – seine Navigation überprüfte und den Fehler bemerkte, rief er sogleich über Funk um Hilfe. Wenig später stieg in Alaska ein Jet auf. Die F-102 sollte den verlorenen Luftaufklärer aufsammeln und über die Beringsee in sicheren Luftraum geleiten. Unglücklicherweise hatte zu diesem Zeitpunkt auch die sowjetische Luftüberwachung von der Sache Wind bekommen. Mehrere MiGs hoben von einem Stützpunkt nahe der Wrangelinsel ab, um die U-2 abzufangen. Ximon hatte nicht verhindern können, dass der aus Alaska zu Hilfe eilende Jet mit nuklearen Luftraketen bestückt war. Seit Montag war die gesamte Luftwaffe entsprechend ausgestattet worden. Bange Minuten verstrichen. Nichts war wahrscheinlicher, als dass die Sowjetunion diesen »Unfall« als einen aggressiven Akt verstehen würde. Was das bedeutete, war allen klar.
Mit knapper Not konnte die U-2 den MiG-Jägern in den internationalen Luftraum entkommen. Der ganze Vorfall hatte höchstens fünfundvierzig Minuten gedauert, vielleicht die längste Dreiviertelstunde der ganzen Krise. Einmal mehr war eine höchst bedrohliche Situation abgewendet worden, mit der vorher nie jemand gerechnet hätte.
Als Robert den Spiegel übernahm und erneut das Exekutivkomitee ins Bild rückte, traf die Nachricht von dem Beinaheunglück gerade ein. Der Verteidigungsminister las die Mitteilung, wurde kreidebleich und schrie: »Das hätte Krieg mit der Sowjetunion bedeuten können!«
Der Präsident überflog den Zettel, lachte und bemerkte lakonisch: »Es gibt immer irgendeinen Trottel, der nicht richtig aufpasst.«
Inzwischen wunderte sich das Exekutivkomitee über Chruschtschows zweiten Brief. Er war aus Moskau übermittelt worden, obwohl der Präsident noch gar nicht auf den ersten geantwortet hatte. Die beiden Sowjetspezialisten Helmut Sonnenfeldt und Joseph Neubert waren gerade erst dabei, die Zeilen des Kremlchefs zu analysieren.
Der zweite Brief unterschied sich deutlich vom ersten. Man gelangte schnell zu der Überzeugung, dass dieses Schreiben nicht aus Chruschtschows Feder
Weitere Kostenlose Bücher