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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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dem Weg zur Toilette hatte ich die beiden tuschelnd in der Ecke stehen sehen. Paul stützte sich über ihrer Schulter an der Wand ab, stand viel zu dicht vor ihr. Er tat nichts Verbotenes, aber ich bemerkte es. Ich war davon ausgegangen, dass er der Versuchung widerstehen würde. Offenbar hatte ich mich geirrt.
    Ich lag in Sonoma im Bett und konnte nicht einschlafen. Ich stand auf, schaltete die Nachttischlampe ein und wühlte in meiner Handtasche, bis ich in einer Streichholzschachtel aus dem Shangai Low einen uralten, halb gerauchten Joint fand. Ich zündete ihn an und starrte in das samtige, schwarze Nichts draußen vor dem Fenster. Es war so neblig, dass wir genauso gut auf einem Boot oder einer Insel hätten sitzen können.
    Nach dem Joint legte ich mich wieder ins Bett und schloss die Augen. Das Mädchen im weißen Kleid wirbelte vor der Bühne über die Tanzfläche. Sie lächelte selig. Ich beobachtete sie von der Galerie aus. Andray stand neben mir. Wir lehnten uns ans Geländer und beobachteten die Frau.
    »Sie ist nicht das Problem«, sagte Andray. »Das Problem ist, den Fall richtig anzugehen.«
    »Immer tust du so, als würdest du mich so gut kennen«, sagte ich.
    »Weil es so ist«, sagte er. »Du trägst dein Herz auf der Zunge, Claire DeWitt.«
    Ich sah auf meinen Arm hinunter, der blutverschmiert war.
    »Du glaubst, sie sei dein Problem«, sagte er, »dabei ist dein Problem
die da.
«
    Er zeigte auf die Tanzfläche. Die Frau im weißen Kleid tanzte immer noch allein. Auf einmal war sie eine andere, sie war Lydia. Sie schrie und weinte und tobte vor Wut. Sie heulte und schluchzte.
    »Wenn du mich so gut kennst«, sagte ich, »warum sprichst du dann nicht mit mir?«
    »Genau deswegen, Claire DeWitt«, antwortete er.
     
    Der nächste Morgen war neblig und kalt. Über der Lichtung kreiste ein Habicht. Irgendeine arme Maus oder Schlange würde gleich ihr blaues Wunder erleben. Hier draußen wurde man auf Schritt und Tritt daran erinnert, dass es in der Natur nur Verlierer gab.
    »Mittags klart es auf«, sagte Lydia.
    Wir saßen auf der Veranda und tranken Kaffee. Eine Rehfamilie wagte sich aus dem Wald, um auf der Lichtung zu äsen. Eine Ricke mit zwei Kitzen. Wir beobachteten, wie sie aus dem Nebel auftauchten und wieder verschwanden wie Fabelwesen.
    »Hey«, sagte ich, »kannst du dich an diese Band erinnern? Wir haben sie in der Swiss Music Hall gesehen. Sie treten mit Kontrabass auf und mit Snare Drum, glaube ich.«
    »Klingt nach den Salingers. Mit Sängerin?«
    »Ja, ich glaube schon«, sagte ich.
    »Ich glaube, der Schlagzeuger spielt ein tragbares Drum Set. Wann haben wir sie zusammen gesehen?«
    »Damals«, sagte ich, »damals, als … warte mal. Nein, vielleicht war das gar nicht mit dir. Ich glaube, ich war mit Tabitha dort.«
    »Ja, kann sein«, sagte Lydia. »Ich glaube, ich war nicht dabei. Die sind echt gut. Paul war mit der Gitarristin befreundet, Nita. Komm, wir gehen frühstücken, bevor du in die Stadt zurückfährst.«
    Heute wirkte sie ein bisschen fröhlicher, weniger verbittert. Ich musste an den endlos langen, einsamen Tag denken, der noch vor ihr lag.
    »Klar«, sagte ich, »klingt super.«
    Es klarte auf, wie Lydia gesagt hatte. Wir fuhren nach Süden. Überall waren Touristen im Schneckentempo unterwegs. Lydia hatte die Hand schnell an der Hupe. Zwischen den Ortschaften erstreckten sich dichte Wälder und endlose Kuhweiden.
    In Petaluma, fast eine Kleinstadt, kurvten wir durch die eng bebaute, im viktorianischen Stil gehaltene Innenstadt. Wir fanden einen Parkplatz und entschieden uns nach einem kurzen Spaziergang für ein ausgiebiges, mexikanisches Frühstück. Lydia kaufte ein paar Sachen in einem Antikladen; eine Lampe in Form einer Geisha, einen Messingnussknacker in Form eines Eichhörnchens. Ich kaufte ein antikes Fingerabdruckset. Die Lupe war hervorragend, es war sogar noch etwas Originalpuder dabei.
    Als wir fast wieder beim Haus waren, sagte ich: »Ich weiß, du redest ungern darüber. Aber die Liste der Gitarren, die du mir gegeben hast, der gestohlenen Gitarren … in einem Fall hast du dich geirrt. Die Favilla. Paul hat sie an Jon aus dem Marin County verkauft, vor … nun ja, vorher.«
    Lydia zog die Stirn kraus. »Oh«, sagte sie, »dann weiß ich ja nun endlich, wo sie ist.«
    »Ja«, sagte ich, »das stimmt, aber als man Paul fand, waren fünf Gitarrenständer leer. Wir wissen von vier gestohlenen Instrumenten. Ich habe mich nur gewundert. War ein Ständer

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