Das Erbe des Greifen
etwas anderem.« Sie trat zurück und musterte das Relief, das beide Türflügel bedeckte. Es war das alte Zeichen der Göttin, der Stern in einem Kreis. Sie griff unter ihre Robe, zog das schwere Symbol ihres Glaubens hervor und hob es in die Höhe. Es war warm in ihren Händen und glänzte golden im Licht der Sonne.
Dann trat sie näher an das Tor heran und erkannte nun, dass sich im Zentrum des Symbols eine Aussparung im Metall befand, die genau dem Stern in ihrer Hand entsprach.
»Heb mich bitte mal hoch, Astrak«, sagte sie.
Astrak nickte, trat an sie heran und legte seine Hände an ihre Hüften. Er war nicht gerade der Kräftigste, aber Elyra wog auch nicht sehr viel. Er holte tief Luft und stemmte sie hoch. Beim ersten Versuch Elyras, das Amulett in die Aussparung zu setzten, verkantete es sich. Die Priesterin löste es wieder und drehte es ein wenig, sodass die Öse für die schwere goldene Kette direkt nach oben zeigte, dann presste sie es erneut in die Öffnung.
Diesmal war ein leises Klicken zu hören, und einen Moment später begann es tief unter ihnen im Boden zu knirschen und zu poltern, als ob dort ein schwerer Mühlstein mahlen würde.
»Gegengewichte!«, rief Astrak begeistert, während er Elyra wieder herunterließ. »Es ist ein Mechanismus mit Gegengewichten und keine Magie!«
Ein unmerkliches Zittern erfasste das Tor, und während das Knirschen und Poltern im Untergrund immer lauter wurde, öffneten sich die massiven Türflügel. Erst langsam, dann immer schneller schwangen sie auf und schoben dabei Sand und Pflanzen mühelos beiseite.
Hastig traten die drei zurück, und die Türen schlugen dumpf gegen die Eckpfosten, so hart, dass es schien, als würde die Erde beben! Staub und Dreck rieselten von oben herab, und modrig riechende Luft schlug ihnen aus dem Inneren des Tempels entgegen, den seit der Katastrophe niemand mehr betreten hatte. Vor ihnen öffnete sich ein Gang, gut acht Schritt breit und hoch, an dessen Wänden farbenprächtige Mosaike die Göttin und ihr Wirken preisten. Zwei Türen, die jedoch verschlossen waren, führten zu beiden Seiten ab. Der Gang gab die Sicht frei auf die Haupthalle, die kreisrund war wie der Tempel selbst. Zur Mitte hin senkte sich der Boden stufenförmig ab, wie bei in einem Amphitheater. Und dort, in der Mitte, direkt unter der gläsernen Kuppel, die das Dach des Tempels abschloss, befand sich der reich verzierte goldene Altar. Etwa einen Schritt darüber schwebte silbern schimmernd die Statue der Mistral. Sie war von der Größe eines Menschen und so präzise gearbeitet, dass sie ihnen beinahe wie ein lebendes Wesen erschien!
Die Figur stellte eine junge Frau dar, mit zierlichen Gesichtszügen und ausgeprägten Wangenknochen, gekleidet in der eleganten Mode des erstens Reichs. Mit geschlossen Beinen schwebte sie über dem Altar, die Arme etwas angewinkelt, die Lippen leicht geöffnet, aber ihre Augen waren zu. Ihr knöchellanges Haar war kunstvoll mit feinen Ketten und Kämmen gehalten und wehte hinter ihr in einem nicht spürbaren Wind.
Dann geschah das Wunder.
Die silbrig schimmernden Augenlider der Statue hoben sich, und strahlend blaue Augen sahen fragend zu den drei Jugendlichen hinüber, den ersten Menschen, die nach so langer Zeit den Tempel betreten hatten.
Neben Astrak schluchzte Lenise auf, während Elyra langsam zu Boden sank. Tränen flossen ihr die Wangen herab. Astrak aber stand da und war nicht imstande, sich zu bewegen, so ergriffen war er von dem Anblick.
»Ich … ich kann sie sehen!«, schluchzte Lenise neben ihm. »Ich kann sie sehen, so als ob ich Augen hätte … sie ist wunderschön …«
»Astrak!«, ermahnte Elyra ihren Begleiter, der sich noch immer nicht rührte, und zog ihn am Ärmel, bis auch er niedersank. Irgendetwas knirschte unter seinen Knien, doch er achtete nicht darauf. Er war gefangen von dem Blick der blauen Augen, die bis in die Tiefen seiner Seele zu sehen schienen.
Dann fing Elyra an zu singen. Tränen stiegen Astrak in die Augen, als er die alte Weise erkannte, mit der sie die Göttin pries und ihr dankte für das Leben und für alles, was die Welten zusammenhielt!
Andächtig senkte Astrak den Blick – und sah geradewegs in die leeren Augenhöhlen eines ausgetrockneten Leichnams. Was unter seinem Knie geknirscht hatte, war eine verdörrte Hand, die ein verrostetes Schwert umschlossen hielt.
»Göttin!«, rief er entsetzt und sprang wieder auf.
Elyra warf ihm einen bösen Blick zu, doch sie stockte
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