Das Erbe
alle hassen.
Aber war es Hass, was sie in seinen Augen las? War es nicht eher das Gegenteil? Da war etwas in seinem Blick. Etwas Fremdes. Als wäre ein Licht darin erloschen. Der Funke fehlte, der Lebenswillen signalisierte. Wenn jemand wusste, was das bedeutete, dann Rose. Man zog einen Schlussstrich. Nichts war mehr wichtig. Gar nichts.
Ihr wurde schwindelig und sie hielt sich am Tisch fest. Atmete ein paar Mal tief durch. Sie konnte das nicht länger aushalten. Auf gar keinen Fall. Tom machte keinen Schritt zurück. Im Gegenteil, es schien ihm darum zu gehen, sie alle in den Wahnsinn zu treiben. Was hatte er zu David gesagt? Er wollte seine Seele. Und vermutlich die von allen, die hier mit ihm im Raum waren.
Und war es nicht so, dass er es bereits geschafft hatte? Die Stimmung hatte sich merklich verändert. Hatte sie vorher in leere, ausdruckslose Gesichter gestarrt, so schien jetzt ein Hauch von Hoffnung aufzukommen. Der Großteil von ihnen würde freikommen. Nur acht blieben übrig, wenn … ja, wenn Tom sich an das hielt, was er David zugesichert hatte. Bis jetzt hatte er es mit den Regeln nicht allzu genau genommen.
Sie waren fünfundzwanzig Studenten und ein Einzelner schaffte es, ihren Willen zu brechen. Und nicht nur das. Jetzt wurden sie zu Konkurrenten. Jedem war auf die Stirn geschrieben: ICH. ICH werde freikommen. ICH werde es überleben. ICH. ICH. ICH.
Zum Beispiel Debbie. Sie saß jetzt aufrecht und ein triumphierender Ausdruck zeigte sich in ihrer Miene. Ihre Zähne gruben sich vor Aufregung in die Unterlippe. Sie rechnete fest damit, zu den Auserwählten zu gehören, die freikamen. Sie war schließlich mit David befreundet. Gehörte zum innersten Kreis. Ab und zu schaute sie in Julias Richtung.
Julia hatte sich von Chris gelöst und starrte auf den Tisch vor sich. Jeder wusste, dass David in Julia verliebt war. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, und genau das hatte sein Verhältnis zu Chris stets belastet. Wie würde David sich in seinem Fall entscheiden? Und wie würde er über all die anderen urteilen, die er nur flüchtig kannte?
»Warum tust du das?«, brach sie das Schweigen. »Was hast du davon, uns zu quälen? Wie … irre muss man eigentlich sein, David vor so eine Entscheidung zu stellen?«
»Hier geht es um etwas Höheres«, entgegnete Tom. »Etwas, was keiner von euch versteht. Vielleicht denkt ihr das Falsche von mir. Vielleicht will ich David einfach die Chance geben, sich zu retten.«
Eine Chance, sich zu retten? Etwas Höheres? Tom klang, als hätte man ihn einer Gehirnwäsche unterzogen.
Rose spürte in ihrem Innern einen Ruck, so jäh, dass sie ihn körperlich fühlte. Sie ließ den Tisch los, an den sie sich die ganze Zeit geklammert hatte. Sie konnte beinah zusehen, wie sie sich in zwei Personen aufspaltete. Die Rose, die nichts anderes wollte, als aus diesem Raum zu stürmen, und die Rose, die sich weigerte, Tom die Macht zu überlassen.
Ihre eigene Feigheit war ihr zuwider. Wie oft hatte sie in den letzten Wochen mit dem Gedanken gespielt, David zu sagen, was sie für ihn empfand. Wie wichtig er für sie geworden war. Und das nicht nur, weil er ihr das Leben gerettet hatte. Sie durfte nicht zulassen, dass er ihren Namen auf die Liste setzte. Er sollte nicht vor diese Entscheidung gestellt werden. Denn wie sie David kannte, würde er es tun, aber es würde ihn vergiften. Man konnte jemanden innerlich sterben lassen. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass Tom genau das wollte.
Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Aber der Gedanke, der in ihrem Kopf erst aufblitzte, dann immer mehr Raum einnahm, ließ sich einfach nicht rückgängig machen.
David hatte ihr Leben gerettet. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, ihm eine Entscheidung abzunehmen.
»Ich werde nicht gehen«, sagte sie laut.
Alle Köpfe drehten sich zu ihr. Sie sah in fassungslose Gesichter. Niemand hatte damit gerechnet. Keiner war auf die Idee gekommen, jemand könne sich freiwillig melden, um mit Julia auszuharren. Sie wiederholte es noch einmal und ihre Stimme klang entschiedener als beim ersten Mal. »Ich werde bleiben.«
Es dauerte einige Sekunden, bis Tom versuchte, sein typisches Lächeln aufzusetzen. Nur diesmal misslang es. Mehr als eine Grimasse war ihm nicht möglich.
Yes! Sie hatte ihn aus dem Konzept gebracht – zum ersten Mal. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie zerstörte seinen Plan. Den Plan, David zu Kreuze kriechen zu
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