Das Evangelium nach Satan
so kräftig, dass er einen Ochsen mit der bloßen Faust hätte erschlagen können.«
Er legt ihr die Riemen um Hand-und Fußgelenke und zieht sie so weit fest, dass sie ihre Glieder nicht bewegen kann, ohne sich eingeengt zu fühlen.
»Das sind ja tolle Dinger.«
»Diese Riemen verwende ich im letzten Stadium von Besessenheit. Sie sind so ausgelegt, dass sich ein Patient bei einem Tobsuchtsanfall nicht gefesselt fühlt. Damit vermeidet man übermäßigen Stress. Jedenfalls hat sich bisher noch niemand beschwert.«
Sie versucht ein Lächeln, doch die Angst vor der bevorstehenden Begegnung lässt es auf ihren Zügen gefrieren.
»Und wie wollen Sie mich diesmal zurückführen, wenn ich in Schwierigkeiten gerate?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber mir fällt bestimmt etwas ein.«
Maria sagt nichts darauf.
»Sind Sie bereit?«
Sie schließt die Augen und nickt.
»Gut. Dann schicke ich Sie jetzt also zurück zum 11. Juni 1348. An jenem Tag hat Landegaard das Kloster am Matterhorn erreicht. Seine Heiligkeit Papst Klemens VI. hat ihn dorthin geschickt, weil er von den Weltfernen Schwestern jenes Klosters schon sehr lange nichts gehört hat.«
»Dieser Klemens war wohl nicht sonderlich fix?«
»Nicht mehr reden. Zu dem Zeitpunkt, an dem Sie dort eintreffen, wütet seit über einem Jahr der Schwarze Tod in Europa. Allein in Italien hat die Geißel Hunderttausende dahingerafft. Ganze Städte liegen verlassen, und auf dem Lande hört man als einzige Lebensäußerungen das Krächzen von Raben und das Heulen von Wölfen. Auch in der Umgebung des Klosters hat die Pest ihre Opfer gefordert.«
Während Carzos Worte wie durch einen dicken Nebel zu ihr dringen, schwindet Marias Bewusstsein nach und nach.
Es kommt ihr vor, als wachse ihr Körper in die Länge und als breiteten sich Arme und Beine unmäßig aus.
14
»1348. Im Frühjahr jenen Jahres des Kummers und der Verzweiflung bricht der Generalinquisitor Landegaard gemeinsam mit seinen Schreibern, mehreren Zellenwagen und einer Eskorte von Kriegern auf. Er hat zwei Aufträge, von denen einer auch für ihn sehr schmerzlich werden kann: Nicht nur soll er über die Klöster berichten, deren Bewohner den Schwarzen Tod überlebt haben, sondern auch feststellen, ob diese sich unter dem Eindruck von Verzweiflung und Einsamkeit womöglich zu einem Bündnis mit dem Teufel haben hinreißen lassen. Daher ist er im Besitz aller Vollmachten, Mönchen und Nonnen, die vom rechten Weg abgewichen sind, den Prozess zu machen und sie erforderlichenfalls zum Tod auf dem Scheiterhaufen zu verurteilen.«
Während Carzos Stimme sich immer mehr entfernt, hat Maria den Eindruck, dass ihr Längenwachstum aufhört. Jetzt bilden sich harte Muskeln auf ihren Armen, ihre Schultern werden unter vernehmlichem Knacken von Knorpeln und Sehnen immer breiter. Auch der Hals nimmt an Umfang zu, das Gesicht vergrößert und vergröbert sich, und während sich die letzten Reste ihres Bewusstseins verflüchtigen, merkt sie, dass auch der Umfang ihrer Beine in bedeutendem Maße zunimmt. Das Becken wird schmaler und ihr Bauch hart wie Stein. Zwischen ihren Schenkeln ist ein Gemächt entstanden. Noch hört sie Carzos Stimme, allerdings kaum vernehmbar: »Eins noch, bevor Sie vollständig fort sind: Um ganz und gar in Landegaards Geist eindringen zu können, müssen Sie sich unbedingt darüber klar werden, was es in jenen unruhigen Zeiten bedeutete, Inquisitor zu sein. Im Jahre 1348 waren diese Gehilfen des Papstes in allererster Linie darauf aus, die Wahrheit zu erkunden. Entgegen der Legende haben sie nur selten gefoltert und nur als allerletztes Mittel Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sie hatten in erster Linie die Aufgabe, Zeugenaussagen und Beweismaterial zu sammeln und die Untersuchung objektiv zu führen, ganz wie heute ein Richter. Das heißt, sie mussten entlastendes Material ebenso berücksichtigen wie belastendes. Daher haben sie sich, wenn ihnen die ganz besonders knifflige Aufgabe übertragen wurde, eine Untersuchung in einer von Dämonen verseuchten Gemeinschaft zu führen, gewöhnlich als verirrte Reisende ausgegeben. Auf diese Weise war es ihnen am ehesten möglich, selbst Zeugen von Schandtaten zu werden, die man einer Klostergemeinschaft zur Last legte.«
Jetzt ist Carzos Stimme fast nicht mehr zu hören. Maria nimmt eine Vielzahl von Gerüchen wahr: Schweiß und Schmutz, dessen weder Bimsstein noch Scheuersand Herr würde. Dann Kleidergeruch. Auf ihrer Haut kratzt ein grobes
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