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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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zu wollen. Aber der Richter gebot ihm mit einer Geste Einhalt. Er hielt sich wiederum die eine Kerze unters gesenkte Kinn und ließ lange die unsteten Schatten bedrohlich über sein glattes Gesicht tanzen, aus dem die Augen lauernd unter den Brauenwölbungen nach oben blickten. Ah, er habe es doch geahnt! Der Gentleman habe tatsächlich ein Geheimnis. Dabei hob er den Kopf wieder, sodass er den Priester geradewegs anschaute. Und dann spielte er einen großen Schrecken, mit aufgerissenem Mund, an die Stirn gelegtem Handrücken. Oh nein, wie schockierend! Die arme, kleine Margaret! Vergewaltigt und ermordet! Und die Leiche des missbrauchten Kindes habe er bei den Bahngleisen nahe seiner Kirche verscharrt, wo sie heute noch liege und für immer unentdeckt liegen werde.
    Es herrschte ein Moment allgemeiner Verunsicherung, da löste Holden seine Pose, blickte sich breit grinsend um undbrach in schallendes Gelächter aus. »Ein Scherz, es war ein Scherz!« donnerte er in die Runde, und nur für einen Sekundenbruchteil blieb sein Blick, als er von Gesicht zu Gesicht schaute, länger an dem des Geistlichen hängen. Das Gelächter fand mit etwas Verzögerung Widerhall – weniger, weil die anderen den Witz besonders gelungen oder angebracht fanden, sondern schlicht, weil alle froh waren, diesen verstörend geschmacklosen Misston schnell wieder zu verbannen. Am längsten brauchte der Priester selbst, bis er in das Gelächter einfiel, aber dann war er derjenige, der es lautstark anführte, ja, sogar der Einzige, der Holden mit sich überschlagender Stimme zu seinem etwas makaberen, aber doch gekonnt vorgebrachten Witz gratulierte. Das laute Lachen trieb rote Flecken auf seine bleich gewordenen Wangen. Und den Rest des Abends sagte er keinen Satz mehr – doch das schien niemand besonders aufzufallen.
    Nachdem das Gelächter wieder abgeklungen war, verkündete Holden, jetzt sei aber genug mit diesem albernen Spiel, entzündete wieder die Kerzen des Leuchters, den er zurück in die Tischmitte stellte, und man konnte eine gewisse allgemeine Erleichterung spüren, dass man zu normaler Konversation zurückkehren durfte.
    Aber bevor der Richter die Hellseherei für beendet erklärte, gab es noch einen unbeachteten Moment, da er den Sohn der Deutschen betrachtete, der den ganzen Spuk mit großen Augen verfolgt hatte. Holden schien zu überlegen. Schien für eine Sekunde zu erwägen, noch eine weitere Prophezeiung auszusprechen. Und entschied sich dann dagegen.
    So verging die lange Reise, Tag um Tag, und die Landschaft, durch die sie führte, wurde immer karger und menschenärmer. Und eines Mittags also stand der Junge in den flach aufgefächerten, kühlenden Fluten des Flusses, hatte eben erlebt,wie von einem Lidschlag auf den anderen eine Kugel aus dem Lauf von Holdens Gewehr einen Vogel in einen blutigen Klumpen verwandelt hatte, und der schwarz gewandete Mann auf dem bleichen Stamm am Ufer betrachtete, in der Hand das noch rauchende Gewehr, lachend den entgeisterten Gesichtsausdruck des Jungen und winkte ihn zu sich. Und der Junge watete gegen die Strömung des gleißenden Wassers flink trotz des unebenen, kieseligen Untergrunds auf den Baumstamm mit dem Schützen zu.
    »Weißt du zu schießen?« wurde er, als er bis zum Bauch von frischem Wasser triefend ankam, empfangen. Der Junge schüttelte, etwas außer Atem, den Kopf. Dann solle er sich zu ihm setzen, bedeutete ihm der Richter, etwas zur Seite rückend und auf den Baum neben sich tätschelnd. Der Junge gehorchte.
    Er musste sich nah an Holden pressen, um neben dessen massigem Körper noch Platz zu finden. So aus der Nähe bemerkte der Junge, dass der kahle Mann überhaupt nicht zu schwitzen schien, obwohl er in seiner schwarzen Kleidung in der prallen Mittagssonne saß. »Hold the gun«, gebot ihm der Richter sanft und drückte ihm mit einem Lächeln das Gewehr in die Hände.
    Der Junge nahm es zunächst in Empfang wie ein voll beladenes Tablett, mit Vorsicht und Respekt, nicht recht wissend, wie er es halten sollte, um es nicht fallen zu lassen – oder, noch schlimmer, einen ungewollten Schuss auszulösen.
    Das Gewicht überraschte ihn – bei aller Angespanntheit ließ es ihm doch einen Moment die Arme herabsacken. Aber dann lag es in seinen Griff geschmiegt wie ein schönes, unberechenbares Tier. Der Lauf war noch erwärmt von der jüngst abgefeuerten Kugel. Der Kolben war aus einem fast schwarzen Holz mit einem rotbraun glosenden Schimmer, glatt und leicht speckig, wie

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