Das Flammende Kreuz
mit den Fingern. Meine Mutter hatte sich eines Morgens von mir verabschiedet, mich auf die Stirn geküsst und die Spange wieder befestigt, die mir aus den Locken gefallen war. Ich hatte sie nie wieder gesehen. Ihr Sarg war geschlossen gewesen.
»War - sie es noch?«
»Nein«, sagte er leise. Er blickte mit halb geschlossenen Lidern ins Feuer. »Nicht ganz. Das Gesicht sah ihr ähnlich, mehr nicht. Als hätte jemand versucht, sie aus Birkenholz zu schnitzen. Aber ihr Haar - das war immer noch lebendig. Es war immer noch... sie.«
Ich hörte, wie er schluckte und sich leise räusperte.
»Das Haar lag ihr auf der Brust, so dass es das Kind bedeckte, das bei ihr lag. Ich dachte, es wäre ihm vielleicht unangenehm, so erdrückt zu werden. Also habe ich die roten Locken angehoben, damit er Luft bekam. Ich konnte ihn sehen - meinen kleinen Bruder, der in ihren Armen zusammengekuschelt lag, seinen Kopf auf ihrer Brust, ganz gemütlich und dunkel unter dem Vorhang aus Haaren. Also dachte ich, nein, er wäre bestimmt zufriedener, wenn ich ihn so ließ - also habe ich ihr Haar wieder über seinen Kopf gelegt.« Er holte tief Luft, und ich spürte, wie sich seine Brust unter meiner Wange hob. Seine Finger fuhren sanft durch mein Haar.
»Sie hatte kein einziges, weißes Haar, Sassenach. Nicht eins.«
Ellen Fraser war im Alter von achtunddreißig Jahren im Kindbett gestorben. Meine Mutter war zweiunddreißig gewesen. Und ich... ich besaß die Fülle all dieser Jahre, die ihnen entgangen waren. Und noch mehr.
»Zu sehen, wie dich die Jahre verändern, erfüllt mich mit Freude, Sassenach«, flüsterte er. »Denn es bedeutet, dass du am Leben bist.«
Er hob die Hand und ließ mein Haar langsam fallen, so dass es mein Gesicht streifte, mir über die Lippen hauchte, mir weich und schwer über Hals und Schultern glitt und sich wie Federn auf die Ansätze meiner Brüste legte.
»Mo nighean donn« , flüsterte er, »mo chridhe. Meine braunhaarige Liebste, mein Herz. Komm zu mir. Bedecke mich. Schütze mich, a bhean, heile mich. Brenne mit mir, wie ich für dich brenne.«
Ich lag auf ihm, bedeckte ihn, meine Haut, seine Knochen, und immer noch - immer noch! - jener glühende, leuchtende Punkt, der uns verband. Ich ließ mein Haar um uns beide fallen, und in der flackernden Höhle seiner Dunkelheit antwortete ich flüsternd.
»Bis wir beide zu Asche verbrennen.«
86
Träume sind Schäume
Fraser’s Ridge
Oktober 1771
Roger war schlagartig wach, ohne dass ihm ein allmählicher Übergang über die Schläfrigkeit vergönnt gewesen wäre; sein Körper war bewegungsunfähig, doch sein Verstand hellwach, seine Ohren auf das Echo des Geräusches gerichtet, das ihn geweckt hatte. Er konnte sich nicht bewusst an Jemmys Jammern erinnern, doch es hallte in seinem inneren Ohr wider und erfüllte ihn mit jener Kombination aus Hoffnung und Resignation, die das Schicksal des Elternteils ist, der leichter wach wird.
Der Schlaf zerrte an ihm und zog ihn wieder unter die Oberfläche des Schlummers wie ein Zehn-Tonnen-Klotz, der an seinen Fuß gekettet war. Ein leises Rascheln war schuld daran, dass sein Kopf noch kurz über der Oberfläche blieb.
»Schlaf wieder ein« , dachte er intensiv in Richtung des Kinderbetts. »Schhhh. Pssst. Still. Schlaaaf wieeder ein.« Diese telepathische Hypnose funktionierte nur selten, aber damit schob er die Notwendigkeit, sich zu bewegen, noch ein paar kostbare Sekunden vor sich her. Und dann und wann geschah das Wunder, und sein Sohn schlief tatsächlich wieder ein und überließ sich entspannt der warmen Nässe seiner feuchten Windel und seinen krümelverschmierten Träumen.
Roger hielt den Atem an und klammerte sich an den zerfransenden Saum des Schlafes, hütete die wertvollen Sekunden der Reglosigkeit wie einen Schatz. Dann erklang ein weiteres, leises Geräusch, und er war unverzüglich auf den Beinen.
»Brianna? Brianna, was ist los?« Das »r« in ihrem Namen flatterte kaum hörbar in seiner Kehle, doch ließ er sich davon nicht ablenken. Seine ganze Aufmerksamkeit galt ihr.
Sie stand an der Wiege, eine geisterhafte Säule in der Dunkelheit. Er berührte sie, packte sie an den Schultern. Sie hatte die Arme fest um den kleinen Jungen geschlungen, und sie zitterte vor Kälte und Angst.
Instinktiv zog er sie dicht an sich, und sie steckte ihn mit ihrer Kälte an. Er spürte, wie die Kühle sein Herz erfasste, und zwang sich, sie noch fester zu halten, nicht in die leere Wiege zu schauen.
»Was ist
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