Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Rationalität besitzt (ähnlich der Gier von Krebszellen), darauf beharrt Max Weber, eine unbezwingliche Triebkraft. Was in der Dialektik der Aufklärung »Verblendungszusammenhang« heißt, so Bohrer, hat seine Wurzel in dieser mißglückten Trennung von den Göttern, deren Sitz brachliegt, obwohl er Sprache versteht. Karl Heinz Bohrer betont, daß von den Potenzen, welche die Menschen in ihrem Kopf tragen, nichts auf Dauer unbesetzt bleibt. Weichen die Götter, besetzt der Assyrer den Platz.
Die Entstehung des SELBST aus der Hinterlist
R. C. Gur und R. E. Gur vermuten, daß ein von der Stimme der Götter geleiteter Mensch (Frau oder Mann) einen Usurpator, der Götterbilder umstürzt, die Stadt unterjocht hat, lästerliche Aufforderungen an sie richtet, ohne Vorsicht sofort anfallen würde. Auf Geheiß der Stimmen in der rechten Seite ihres Kopfes. So wird auch ein Mann, fahren die Autoren fort, der seine Frau von Invasoren vergewaltigt sieht, wenn er seiner Stimme gehorcht, auf der Stelle losschlagen und wahrscheinlich ums Leben kommen. (Das entspricht dem Untergang der Mondmenschen und war der Grund für den Untergang von Atlantis.) Wer jedoch innerlich ein anderer sein kann als nach außen, heißt es weiter, wer seine wahren Entschlüsse hinter der Maske des Sich-Fügens zu verbergen weiß (wie Odysseus zum Ungeheuer sagt: »Ich heiße Niemand«), dem wird die Fortsetzung seines Stammes ins nächste Jahrtausend gelingen. In seinem »Innern« beherbergt er künftig ein zweites Selbst, dessen »Gedanken« seinem trügerischen Tun widersprechen. Er schiebt die Handlung hinaus in die Zukunft. Er lächelt seinem verhaßten Aggressor, der ihm (vermutlich in fremder Sprache) Befehle erteilt, ins Gesicht. Das ist der URSPRUNG DES ICHS AUS DER HINTERLIST .
Hoffnung, im Urwald auf eine frühe Stufe der Menschheit zu treffen
In einer der inneren Provinzen Brasiliens wurde ein bis dahin unbekannter Stamm entdeckt. Das geschah durch ein Flugzeug, das sich auf dem Rückflug vom Besprühen der offenen Felder in den Dschungel verirrt hatte. Aus der Bauweise der Hütten schlossen Anthropologen, daß der Stamm älter als 3000 Jahre sein müsse. Der damals noch junge Ungar Julian Jaynes, Jahrgang 1920, reiste sogleich in die dem entdeckten Stammesgebiet nächstgelegene Bezirksstadt und suchte mit einer Expedition den Kontakt zu diesen Abkömmlingen der frühen Menschheit. Es zeigte sich aber, daß seine Hoffnung vergebens war, hier auf Menschen mit einer vollerhaltenen BIKAMERALEN HIRNPRAXIS zu treffen. Die Restgruppe war entweder der Abkömmling einer Seitenlinie, die neben der kulturell dominanten Linie unserer Vorfahren sich in die Gegenwart gerettet hatte, oder sie trug zwar, wie alle Menschen, die Ausrüstung zur Doppelköpfigkeit in sich, hatte aber den Gebrauch der Götterstimmen ebenso verloren wie die übrigen Menschen, die nicht isoliert, sondern gemeinschaftlich das moderne Hirn in Gebrauch genommen hatten.
Ende des Lebens
Ein junger Russe des Jahrgangs 1929, der 1937 beide Eltern verloren hatte, übernachtete als 82jähriger in dem Berliner Hotel »Brandenburger Hof« und ging noch spätabends durch die Straßen des Scheunenviertels, die er als Soldat 1945 zum letzten Mal gesehen hatte. Steine des Trottoirs, unregelmäßig geworden durch Kriegseinwirkung, lagen noch so desolat wie damals, frisches Gras dazwischen. Während rings Neubauten prangten, zu denen er keine Verbindung mehr aufnahm.
Kant und der ROTE MANN
Es gibt einen seltsamen Bericht, der von dem Tyrannen Dionys von Syrakus und den Pythagoreern handelt. Iamblichos, Vita Pythagorica, Q17C:
»Der Tyrann Dionysios gewann trotz all seiner Bemühungen keinen Pythagoreer zum Freund, da sie seinem selbstherrlichen und gesetzwidrigen Wesen vorsichtig auswichen. Da entsandte er eine Schar von 30 Mann, den Pythagoreern aufzulauern [. . .]. Die Pythagoreer verwirrte der Überfall, und allein schon die große Zahl der Feinde – denn sie selbst waren insgesamt etwa 10 – nötigte sie zur Vorsicht. Da sie selbst unweigerlich gefangengenommen worden wären, entschlossen sie sich, durch rasche Flucht sich zu retten: auch war dies für sie mit der Tugend nicht unvereinbar. Wußten sie doch, Tapferkeit sei das Wissen darum, wovor man zu fliehen und wem man standzuhalten habe.
Und es wäre ihnen auch beinahe geglückt – die Leute des Eurymenes blieben nämlich, da die Waffen sie beschwerten, bei der Verfolgung zurück –, wären die Pythagoreer nicht an ein Feld
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