Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
ist sehr unterschiedlich. Manche sehen sie nur gegeben, wenn es um Leib und Leben geht, andere auch, wenn Stellung und Beruf gefährdet sind. In vielen Gegenden dürfen Juden zum Beispiel ausschließlich im Finanzgewerbe tätig sein. Wenn so ein Edikt ausgesprochen wird, sollen alle Handwerker, Gelehrten, Ärzte plötzlich Banken gründen oder Pfandleihen eröffnen! Das bedeutet nicht nur für diese Menschen den Ruin, sondern auch für die Gemeinden. Wie viele Pfandleihen verträgt ein Ort? Und soll der Arzt wirklich seinen Eid brechen und keine Kranken mehr behandeln, nur weil es ihm ein König verbietet? Die Betroffenen können in einem solchen Fall nur auswandern - oder sich zum Schein taufen lassen. Sie gehen dann jeden Sonntag brav in eine christliche Kirche und sind am Sabbat und an anderen jüdischen Feiertagen auf der Hut, damit niemand ihre wahren Gebete hört. Das ist natürlich riskant, aber oft geht es nicht anders, und in Paris wird es ebenso sein. Ganz sicher gibt es eine jüdische Gemeinde, die im Verborgenen agiert.«
»So gibt es auch eine Mikwe, Herr Salomon?«, fragte Miriam schüchtern. Noch immer richtete sie das Wort nur leise und scheu an den Medikus, wenn es nicht gerade um die Berechnung von Sternenbahnen ging.
Salomon lächelte ihr gütig zu. »Da bin ich mir sicher, Miriam. Wir müssen die Frage danach nur unter größter Vorsicht stellen.«
Auf der Fahrt zur nächsten Seine-Brücke schwärmte das Mädchen Gerlin von der Mikwe vor - offensichtlich einer Art rituellem Bad für Frauen, das sie von allen Sünden und Fährnissen der Reise und ihrer Beziehung zu Martinus reinwaschen würde. Die junge Frau schien bereit, auch Gerlin dorthin mitzunehmen, aber der hätte schon ein ganz normales Bad gereicht. Sünden hatte sie auf der Reise nicht angesammelt - dafür aber wieder mal Flöhe und Läuse.
Herr Salomon und Abram tauschten die bunten Reisekleider der Bader vor dem Überschreiten der Seine mit den würdigeren Roben erfolgreicher Händler und Gelehrter. Salomon wirkte in der langen Tunika des Arztes älter und ernster, aber der Blick, mit dem er Gerlin musterte, war liebevoll bewundernd und fast begehrend.
»Du darfst dich auch wieder verschleiern und dein Haar verbergen, Gerlin. Dann brauchst du keine Angst mehr zu haben, dass jemand dich erkennt.« Salomon nannte die junge Frau wieder bei ihrem richtigen Namen, aber er behielt das vertrauliche Du bei, und Gerlin freute sich darüber. Sie freute sich auch über die beruhigenden Worte, zeigten sie doch, dass Salomon wusste, unter welcher Spannung sie in den letzten Wochen gestanden hatte. Allerdings machte er sich wohl keinen Begriff davon, wie sehr ein Leben als Jüdin oder Scheinchristin in der mosaischen Gemeinde von Paris die junge Frau belasten würde. Das fing schon damit an, dass sie aufpassen musste, ihren kleinen Sohn nicht im Beisein anderer Frauen auszuziehen. Dietmar war inzwischen ein lebhafter Junge, der fast allein laufen konnte. Gerlin würde darauf achten müssen, ihn mit einer Brouche zu bekleiden, obwohl das für so kleine Knaben nicht üblich war. Ein jüdisches Kind in seinem Alter wäre längst beschnitten, auch wenn man es zum Schein christlich getauft hätte.
Die Île de la Cité erwies sich als das lebhafteste Geschäfts- und Wohnviertel, in dem Gerlin je gewesen war. Alle Straßen waren eng und vollgestopft mit Läden, Märkten, Schenken und Garküchen. Die Leute sprachen so schnell, dass es selbst Gerlin mitunter schwerfiel, zu folgen - dabei war sie die französische Sprache vom Hof der Herrin Aliénor gewöhnt und sprach sie so gut wie ihre Muttersprache. Salomon, Miriam und Abram taten sich hier noch viel schwerer, wobei Letzterer allerdings blitzschnell lernte. Schließlich musste er den Soldaten des Königs die Zehennägel des heiligen Christophorus in der eigenen Sprache schmackhaft machen, und auch die Zertifikate lasen sie lieber in ihrem gewohnten Idiom.
Ein regelrechtes Judenviertel hatte es in Paris nie gegeben. Vor der Vertreibung lebten Salomons Glaubensgenossen über die ganze Stadt verteilt. Das machte es nun schwierig, den Rest der Gemeinde aufzuspüren, und Gerlin hätte absolut nicht gewusst, wie sie das anfangen sollte. Salomon und Abram schienen ihre Glaubensbrüder aber instinktiv zu erkennen. Schon beim Schlendern über den ersten Markt zogen sie vorsichtige Erkundungen ein, und zu Gerlins Erstaunen fanden sich sehr rasch Fernhändler, die Abrams Vater kannten. Sie verwiesen den
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