Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
wäre das gar nicht nötig gewesen, ich wollte ja reden. Hör zu, Gerlin, mir ist etwas eingefallen. Dieses Medaillon, diese Verbindung zu Richard ... es ist unsere einzige Chance. Wir müssen sie glauben lassen, du wärest dem König wertvoll. Oder Dietmar - hast du zugegeben, dass du seine Mutter bist? Vielleicht könnten wir ihn ja als irgendeinen Verwandten der Herzöge von Aquitanien ausgeben ... Jedenfalls müssen wir ihn wiederhaben. Und aus diesem Loch heraus. Wenn du als Adlige anerkannt wirst, weisen sie dir ein komfortableres Gefängnis zu, erst recht mit dem Kind. Vielleicht bewachen sie es nicht gut ... vielleicht können wir fliehen!«
Gerlin dachte jetzt erst einmal nur an Dietmar. Sie würde aufatmen, wenn sie zumindest mit ihm wieder vereint war. Was dann weiter geschah ...
Es dauerte nur wenige Stunden, bis sich das Gitter zum Verlies erneut für Gerlin und diesmal auch Abram öffnete. Die Wachleute zerrten sie heraus, wobei sie den stöhnenden Abram kaum auf die Beine brachten, und trieben sie zunächst nach oben, dann durch die Wachstube in einen Innenhof und schließlich in einen kleinen, vergitterten Karren.
»Der Schinderkarren«, sagte Gerlin tonlos. »Sie ... sie werden uns doch nicht hinrichten ...?«
Die Büttel lachten. »Warum denn nicht, Gnädigste? Beim Port en Grève hat der Mob heute schon ein paar Juden verbrannt. Wir sollten noch eingreifen, aber leider, leider kamen wir ein bisschen zu spät, um sie zu retten. Dabei hätten die Männer des Königs sie vorher gern noch verhört. Aber wenn das Volk so einen als Christen getarnten Hebräer erst mal in den Fingern hat ...«
»Einen?«, fragte Gerlin schwach und dachte an Salomon.
»Fünf am Port en Grève«, gab der Büttel vergnügt Auskunft. »Aber heute zündeln und henken sie auf der ganzen Île de la Cité. Da hat sich ja ein Schlangennest geöffnet, mit diesem Badehaus. Muss irgendwas mit ihrem Götzendienst zu tun haben, ihre Weiber gehen da wohl alle hin. Man brauchte den Mann der Betreiberin nur ein bisschen zu zwicken, und er gab die Namen raus ...«
Gerlin betete für die freundliche Herbergswirtin. Und dafür, dass man sie nicht schon abgeholt hatte, bevor Charles Dietmar an sich bringen konnte. Abram fiel neben ihr auf den Karren, und Gerlin erschrak darüber, wie man ihn zugerichtet hatte. Seine Augen waren blau geschlagen, seine rechte Hand unförmig angeschwollen. Immerhin versuchte er, sich aufzurichten. Gerlin half ihm. Und dann erblickten beide etwas, das ihre Lebensgeister schlagartig erneut weckte. Charles de Sainte-Menehould betrat den Innenhof und schob Miriam von Wien vor sich her! Das Mädchen war ordentlich angekleidet, trug ein Bündel bei sich, das wohl auch Kleider für Gerlin und vor allem Abram enthielt - und hielt Dietmar im Arm.
»Das Kind Dietmar und Maria, seine Kinderfrau«, erklärte der Ritter dem etwas vergrätzt wirkenden Hauptmann. »Und was soll das hier?« Er wies auf Gerlin und Abram auf dem Schinderkarren. Beider Hände krampften sich inzwischen um die Gitter, begierig, das Kind und das Mädchen zu umarmen.
Miriam spielte ihre Rolle dagegen meisterhaft, sie wagte kaum, den Kopf zu heben.
»Jüdin oder Christin?«, fragte der Hauptmann missgestimmt mit Blick auf das Mädchen. »Aber im Grunde soll's mir egal sein. Wir haben den Statthalter des Königs benachrichtigt. Die Leute werden jetzt erst mal in den Louvre geschafft. Was die da mit ihnen machen, geht mich nichts an. Von mir aus könnt Ihr sie begleiten, Herr Ritter, Ihr wolltet Euch doch sowieso in den Dienst des Königs stellen.«
Der Stadtwächter wies seine Leute an, den Karren für Miriam und Dietmar zu öffnen. Gerlin drückte das Kind an sich und konnte jetzt endlich weinen. Wie viel war passiert, seit sie den Kleinen vertrauensvoll in die Arme der Herbergswirtin gelegt hatte!
Miriam wagte ihre Sorge um Abram nicht zu deutlich zu zeigen, und auch Abram beherrschte sich. Erst als der Karren sich in Bewegung setzte und der Verletzte nicht umhinkonnte, vor Schmerzen zu stöhnen, nahm Miriam ihn in die Arme und bettete ihn bequemer in ihrem Schoß.
Charles de Sainte-Menehould hatte sein Pferd mitgebracht und ritt nun neben dem Karren her.
»Habe ich das zu Eurer Zufriedenheit erledigt, Herrin?«, fragte er mit verschmitztem Lächeln und blickte vielsagend zu Abram und Miriam hinüber.
»Zu meiner vollsten Zufriedenheit!«, antwortete Gerlin. Sie fühlte überströmende Dankbarkeit, aber auch lähmende Erschöpfung. Der
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