Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
Kaminfeuer zurückschreckte. Dazu quälten sie Schuldgefühle. Wären sie und Dietmar nicht gewesen, hätten Salomon und Abram sich nie auf diese Reise begeben. Der Medikus hätte noch Jahre leben, seinen Lehren und seiner Kunst nachgehen, heimlich Pferde züchten und Wein anbauen können. Dietrich hätte ihm den Eid, sie zu schützen, nicht abnehmen, sie selbst ihn rechtzeitig davon entbinden müssen. Aber im Grunde ihres Herzens wusste sie natürlich, dass Salomon sich nicht hätte zurückweisen lassen. Der Medikus hatte sie geliebt - schon lange vor Dietrichs Tod - seit ihrer ersten Begegnung auf Burg Falkenberg.
Schließlich hatte Gerlin sich müde geweint. Sie hüllte sich auf der Matte vor dem Kamin in ihren Mantel. Dabei hielt sie Dietmar an sich gepresst, fast wie damals in der Herberge, als sie die Nähe zu Salomon noch scheute. Dietmar protestierte kurz gegen den zu festen Griff, aber als er sich freigestrampelt hatte, schlief er gleich friedlich ein. Zumindest das Kind hatte von all den Tragödien dieses Tages nichts mitbekommen.
Madame Celestine hatte es gut versorgt, bis Miriam - nach dem Kampf völlig aufgelöst - zitternd und wimmernd die Herberge wieder erreichte. Die Wirtin entlockte ihr nur mühsam ihre Geschichte, zog dann aber sehr schnell die Konsequenzen. Die Pariser Juden lebten ständig in der Angst, ihre Scheinkonvertierung könnte aufgedeckt werden, und manche hatten feste Pläne für den Fall einer Entlarvung. Auch Madame Celestine und ihr Gemahl rafften nun in Windeseile Schmuck und Ersparnisse zusammen, griffen nach ihren stets gepackten Bündeln und machten sich davon. Wenn sie die Île de la Cité verließen, bevor die Büttel kamen, das wussten sie, hatten sie gute Chancen, davonzukommen. Gen Süden, hatte Madame Celestine fast fröhlich gesagt. Offensichtlich planten sie und ihr Gatte, sich Richtung Al Andalus durchzuschlagen. Da sie als Christen reisten und gewohnt waren, sich zu verstellen, bestanden beste Aussichten, auch die hispanischen Lande unbehelligt zu durchqueren. Und danach mussten sie dann eben jüdische Händler finden, die sie über die Grenze brachten. Gerlin wünschte den freundlichen Menschen im Stillen viel Glück.
Miriam selbst war mit Dietmar in der Herberge geblieben, obwohl Madame Celestine ihr angeboten hatte, sie mitzunehmen. Aber das Mädchen war wieder in die Starre verfallen, die sie immer überkam, wenn sie in ernstlicher Gefahr schwebte. Statt Anstrengungen zu ihrer Rettung zu unternehmen, hatte sie sich in die äußerste Ecke der Küche verkrochen, Dietmar gewiegt und still vor sich hin geweint. So hatte Charles sie schließlich gefunden. In dieser Nacht schlief sie zusammengerollt neben Abram und weckte den Armen immer wieder, weil sie schreiend aus ihren Albträumen hochfuhr. Gerlin machte sich fast so viel Sorgen um Miriam wie um den jungen Juden. Sehr viele weitere Belastungen würde Miriam nicht aushalten. Das Mädchen brauchte unbedingt eine Zeit ohne ständige Aufregung und Bedrohung.
Am nächsten Morgen schickte der Verwalter des Louvre erst mal seinen Hofkaplan in Gerlins Gefängnis. Der jungen Frau gelang es, einen recht guten Eindruck zu machen. Sie stellte sich mit ihrem richtigen Namen vor und nahm gern die heilige Kommunion. Gerlin hatte Miriam instruiert, das Kreuzzeichen in die richtige Richtung zu schlagen. Abram stellte sie dem Geistlichen als Konvertiten vor, und wie sich herausstellte, beherrschte »Konstantin« seine Gebete perfekt. Was die Beichte anging, so erinnerte sich Gerlin an Abrams Sterndeutereien. Während der Reise hatte ihr der junge Jude wirklich oft genug vorgemacht, wie man sich in Andeutungen erging und sein Gegenüber von irgendeiner Sache überzeugte, ohne dabei wirklich zu lügen. Gerlin beichtete dem Geistlichen mit erstickter Stimme eine Liebelei mit einem im Stand nicht zu ihr passenden Herrn, die sie nichtsdestotrotz genossen hatte. Dabei dachte sie an ihre Nacht mit Salomon und brach darüber in Tränen aus, was den ältlichen und nicht sehr strengen Pfarrer gleich dazu brachte, sie zu trösten.
»Gott wird in seiner unermesslichen Güte schon wissen, warum Euch das auferlegt wurde«, sagte er mit einem vielsagenden Blick auf den kleinen Dietmar. »Das Kind ist aber schon getauft, oder?«
Gerlin versicherte, der Junge sei auf dem Schloss ihres Vaters würdig in die Christengemeinde aufgenommen worden, und schließlich zog sich der Geistliche zurück - zweifellos um dem Verwalter des Louvre Bericht zu
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