Das Geheimnis der Totenmagd
Archiv des Heiligen Vaters wird sich gewiss sehr glücklich schätzen, solch ein Kleinod beherbergen zu dürfen, dessen bin ich mir sicher.«
»Dorthin wird diese gotteslästerliche Schrift bestimmt niemals gelangen«, beschied ihn der Abt, kreidebleich vor Zorn. »Wollt ihr, dass uns der Großinquisitor aufsucht und unangenehme Fragen stellt? Das würde insbesondere Euch treffen, Bruder. Und bald würde man in der ganzen Kurie mit Fingern auf uns zeigen und uns nachsagen, wir bewahrten in unserer Klosterbibliothek ketzerische Schriften auf!«
»Mit Verlaub, Bruder Abt, aber warum sollte man in Rom die fromme Vorbereitung auf den Tod für frevelhaft erachten? Gibt es nicht überall im Heiligen Römischen Reich derartige Vereinigungen? Ich erinnere nur an die höchst ehrenwerte, anno 1490 zu Ulm gegründete ›Bruderschaft zur Vorbereitung auf den Tod‹, die Geistlichen wie Laien offensteht und zu deren Mitgliedern meines Wissens hohe geistliche Würdenträger ebenso zählen wie die vornehmsten Ulmer Bürger. Es gehört doch zum Gebot der Nachfolge Christi, sich die Marter des Herrn aufzuladen, auf dass man Erlösung finde von dem Elend dieser Welt. Allein das Sterben des irdischen Leibes gewährt diese Erlösung. Darum soll man sich gegen den Tod nicht sperren, sondern ihm offenen Herzens entgegengehen. Nichts anderes kündet uns diese wunderbare Offenbarung des Jakobus.« Obgleich der junge Mönch seine Gegenrede mit der ihm eigenen Eloquenz vorgetragen hatte, konnte er nicht verhindern, dass eine tiefe Ergriffenheit seine Stimme erzittern ließ.
In strengem Tonfall mahnte daraufhin der Abt: »Das Leben ist Mühsal, die man mit Geduld und Demut ertragen muss. Das lehrt uns schon die Geschichte des armen Lazarus. Egal, wie schwer er an seinem Leid zu tragen hat, ein Christenmensch wählt niemals den Freitod, sondern wartet geduldig darauf, bis der Herrgott ihn in seiner unendlichen Güte von seiner Marter erlöst. Von einem ›Königreich des Todes‹ ist in der gesamten Heiligen Schrift niemals die Rede. Es gibt nur das Königreich des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Etwas anderes zu glauben ist schwere Sünde. Nun erwarte ich von Euch, Bruder, dass Ihr mir auf der Stelle diese Schrift aushändigt, auf dass wir sie gemeinsam den Flammen überantworten. Tut Buße, um von Euren Irrwegen abzukommen, dann will ich es einstweilen damit bewenden lassen.«
Der junge Gelehrte war mehr als enttäuscht. Insgeheim hatte er sich erhofft, der Fund der alten Handschrift würde Begeisterung unter seinen Mitbrüdern hervorrufen. In seinen Träumen hatte er vor sich gesehen, wie die Wogen am Ende gar bis zum Vatikan emporschlagen – und ihm womöglich ganz neue Türen öffnen würden. Er hatte keineswegs vor, sein ganzes Leben in einer Abtei im Westerwald zuzubringen. Doch er hatte nicht mit der kleinlichen Beschränktheit der Provinzgeistlichkeit gerechnet. Und nun erwartete der Abt allen Ernstes von ihm, dass er ihm das Kleinod zur endgültigen Vernichtung überließ. Ihm blutete regelrecht das Herz. Das allein war doch für jeden Gelehrten die schlimmste Todsünde! Aber er war nun einmal von Banausen umgeben, da war der Abt keine Ausnahme. Sich ihm offen zu widersetzen, wäre ein Affront gewesen, den er sich nicht erlauben konnte.
Glücklicherweise hatte er eine Abschrift angefertigt. Aber als das unschätzbare Originaldokument, welches mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer Zeit stammte, da Christus noch auf Erden weilte, wenig später in den Flammen des Kaminfeuers aufloderte und rasch zu Asche zerfiel, kostete es ihn große Mühe, nicht laut aufzuschreien.
Da ertönte plötzlich die helle, metallische Stimme des Novizenmeisters aus dem Hintergrund, dass er zusammenzuckte: »Habt Ihr den ketzerischen Text nicht vielleicht kopiert? Mir war so, als habe ich Euch unlängst in der Schreibstube hebräische Schriftzeichen malen sehen.« Erneut richteten sich alle Blicke auf den jungen Gelehrten. Als ihn der Abt darauf mit großer Eindringlichkeit fragte, ob dies zutreffe, bemerkte er zu seinem Unmut, wie er errötete. »Nein, es gibt keine Abschrift, dafür hat mir die Zeit gefehlt«, log er und bemühte sich um eine feste Stimme.
Die Replik seines Widersachers traf ihn wie ein Peitschenhieb: »Dann habt Ihr ja sicher nichts dagegen, wenn der Herr Abt und ein Bruder seines Vertrauens Eure Zelle durchsuchen. Nur, um alle Zweifel aus dem Weg zu räumen.«
Der Vorschlag des Novizenmeisters stieß bei allen
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