Das geheimnisvolle Gesicht
Gerade rechtzeitig, um das kleine Tablett entgegenzunehmen.
Er zwinkerte Perry Clifton zu und radebrechte: „Man muß nehmen, was man kriegt. Ist ohnehin im Preis inbegriffen.“
Bestimmt ist er irgendwo als „Essenresteverwerter“ beschäftigt, überlegte Clifton und sagte: „Guten Appetit!“
Dann wanderten seine Gedanken zurück. Hinunter zur Erde, genauer gesagt, nach Windsor, wo in diesem Augenblick eine Auktion in vollem Gange war. Eine jener Versteigerungen, bei denen es ausschließlich um alte Bilder, Möbel und Gobelins ging.
Julie würde jetzt sicher, vor Aufregung fiebernd, auf ihrem Stuhl herumrutschen und mit den anderen um die Wette steigern. Vielleicht sogar gegen ihren früheren Kollegen Tom Harder, Perrys alten Schulfreund, der jetzt zusammen mit seiner Frau Jenny in Harrow einen eigenen Antiquitätenladen betrieb. Acht Jahre lang hatte Tom bei Hollburn & Sohn gearbeitet, bevor er sich selbständig machte. Und als er die Party für Perry zum Abschluß des Hackston-Falles gab (Tom nannte es Siegesfeier), da lernte Perry Clifton, neben einigen anderen netten Leuten, auch Julie Young kennen.
Julie war 25 Jahre alt, mittelgroß, mit runden, braunen Kulleraugen, geboren in Newport auf der Insel Wright und die Tochter des dortigen Archivars. Sicher stammte ihre Neigung für alte Sachen von ihm. Da ihr Vater außerdem ein alter Freund von Lincoln Hollburn war, startete Julie ihre berufliche Karriere natürlich in dessen Geschäft. Trotz ihrer Beziehung zu antiken Dingen konnte man Julie als ausgesprochen modernes Mädchen bezeichnen. Sie tanzte leidenschaftlich gern, hörte gern Beat, hatte was gegen das Fernsehen, ging aber oft und gern ins Kino und unterhielt — bis vor kurzem — ein äußerst gespanntes Verhältnis zur Polizei. Das lag daran, daß sie innerhalb von sechs Monaten siebenmal verwarnt worden war. Meist wegen zu schnellen Fahrens.
Julie bewohnte ein 2-Zimmer-Appartement in Bromptom. Es lag in unmittelbarer Nähe des Lennox-Gardens.
Julies Fröhlichkeit war nie gekünstelt, aber immer ansteckend. Als Perry Clifton ihr Scott Skiffer vorstellte und sie zusammen zum Essen in eine Pizzeria nach Soho fuhren, erkundigte sich Scott nach zwanzig Minuten — und meinte es ernst:
„Eine Frage, Miß Julie. Hat Perry mir einen Bären aufgebunden, als er behauptete, Sie handelten mit Antiquitäten?“
„Nein, das stimmt! Stört Sie das?“ hatte Julie zurückgefragt.
Natürlich hatte es Scotty nicht gestört. Es lag einfach daran, daß er bisher der Meinung war, alte Sachen könnten nur von alten Leuten verkauft werden.
„Meine Uhr ist stehengeblieben!“ stellte der Dicke neben Perry fest.
„Es ist genau 18 Uhr!“ gab ihm Perry die Zeit.
„Genau?“
„Genau!!“
Ohne Übergang und Vorbereitung schlief der Koloß neben ihm weiter. Perry zwängte, mit einiger Anstrengung, seinen kleinen Koffer unter den Beinen hervor und packte ihn sich auf die Knie. Als er die Schlösser aufschnappen ließ, gab sein Nachbar einen urigen Brummton von sich. Perry entnahm dem großen braunen Umschlag das Buch über die Basler Fasnacht. Bis zur Landung in Basel hatte er noch über sechzig Minuten Zeit, Zeit, um sich nicht nur ein wenig mit dem Brauch, sondern auch mit der deutschen Sprache zu befassen. Dabei war er darüber erstaunt gewesen, wie leicht ihm das Telefongespräch mit der Rezeption des Hotels INTERNATIONAL gefallen war. Ein Gespräch, das vom ersten bis zum letzten Wort in deutscher Sprache geführt worden war.
„Basels Uhren gehen zwar heute nicht mehr anders als alle übrigen in Mitteleuropa; die Jahrhunderte der besonderen ,Basler Zeit’, die derjenigen der umliegenden Länder um eine Stunde vorausging, sind längst vorüber!“
So begann die Einleitung des Buches, und Perry Clifton beschloß nach diesem Satz, seine Aufmerksamkeit zunächst einmal dem Bildteil des Buches zu widmen. (Eine Untugend, die den meisten Lesern eigen ist.)
So entdeckte er bereits auf Seite 34 ein Bild, das ihn schmunzeln ließ. Unwillkürlich schielte er hinüber zu seinem leise schnarchenden Nebensitzer, denn das Foto zeigte Narren mit Masken, deren auffälligste Merkmale die riesigen Nasenlöcher in den nicht weniger riesigen Nasen waren. „D’Suffnase“ stand als Bilderläuterung dabei. Hin und wieder gab es auch sympathische Masken, doch sie blieben in der Minderheit.
Als über den Bordlautsprecher der Anflug auf Basel bekanntgegeben und die Passagiere gebeten wurden, sich anzuschnallen und
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