Das Gesetz der Vampire
und der empfand ihm gegenüber Dankbarkeit. Diese Situation war für ihn unerträglich.
»Sean, du hast zwar gesagt, dass wir nie wieder über Cronos’ Tod reden wollen, aber ich muss darüber sprechen, sonst ...« Er brach ab und blickte den alten Vampir fast flehentlich an.
»Sonst frisst dich dein Schuldgefühl irgendwann auf«, vollendete der den Satz. »Ich weiß. Also sprich dich aus. Ich höre dir zu.«
»Dass ich mich unglaublich schuldig fühle, brauche ich dir sicher nicht zu sagen«, begann Ashton. »Und deine Freundlichkeit mir gegenüber verschlimmert die Sache noch. Ich kann meine Verbrechen nicht ungeschehen machen, aber ich möchte dir sagen, dass es mir wahnsinnig leid tut und ich wünschte, dass es irgendetwas gäbe, das ich tun könnte, um dein Leid wenigstens etwas zu mildern. Es tut mir leid, Sean«, wiederholte er eindringlich, »es tut mir so unendlich leid! Und ich begreife einfach nicht, dass du mich nicht hasst und verabscheust oder zumindest meidest.«
Sean schüttelte den Kopf. »Du warst ein unwissender Mensch, der in der festen Überzeugung gehandelt hat, die Welt von einem gefährlichen Massenmörder zu befreien. Das war zwar eine eklatante Fehleinschätzung, aber du wusstest es nicht besser und hast in der allerbesten Absicht gehandelt. Wie könnte ich dich dafür hassen?« Er zuckte mit den Schultern. »Außerdem bin ich nicht nur in einem ganz anderen Land, sondern auch in einer anderen Zeit geboren und aufgewachsen, in der die Sitten völlig anders waren als heute. Zudem bin ich mehrere Tausend Jahre älter als du, was eine gewisse Gelassenheit und Abgeklärtheit mit sich bringt. Damals jedenfalls gab es den christlichen Gedanken des Verzeihens noch nicht oder den des Hinhaltens der anderen Wange, wenn man auf die eine geschlagen wurde. Für uns galt in erster Linie das Prinzip des Ausgleichs, des Schadensersatzes, soweit es möglich war.«
»Aber man kann einen Toten nicht ersetzen«, stellte Ashton bitter fest.
»In gewisser Weise doch«, widersprach Sean. »Falls die Angehörigen des Toten nicht den Kopf des Täters forderten oder ihn einfach nur der Rechtsprechung überließen, konnten sie verlangen, dass er den Toten ersetzte. Bedenke bitte, dass es damals noch keine Sozialhilfe und keine staatliche Rente gab, durch die auch Alleinstehende versorgt wurden. Es gab nur die Familie. Wenn ein alter Mann also keine Kinder oder Enkel mehr hatte, die ihn versorgten oder eine Frau keinen Ehemann mehr, so waren sie auf sich allein gestellt. In der Regel lebten sie danach nicht mehr allzu lange, sofern sie sich nicht vom Betteln oder von Prostitution ernährten.
Waren solche Menschen nur deshalb alleinstehend, weil irgendjemand ihren Sohn oder Ehemann ermordet hatte, gab ihnen das Gesetz das Recht, den Täter als Ersatz in die Familie aufzunehmen. Er hatte für die Hinterbliebenen die Stelle des Toten in jeder Beziehung auszufüllen, für sie zu sorgen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen, bis sie eines Tages entschieden, dass er genug gebüßt hätte. Wenn er Pech hatte, musste er auch die Pflichten eines Ehemanns im Bett der Witwe übernehmen.«
Ashton starrte ihn ungläubig an. »Willst du damit sagen, dass eine Frau freiwillig mit dem Mörder ihres Mannes geschlafen hat?«
Sean grinste flüchtig. »In der Regel hat sie ihn erst einmal fürchterlich verprügelt und eine Zeitlang auf das Schlimmste gequält und erniedrigt, um sich für den Tod ihres Mannes zu rächen. Obwohl er rechtlich gesehen kein Sklave war, hatte er doch insofern den Status eines solchen, dass er sich nicht dagegen wehren durfte. Wenn sie wollte, durfte sie ihn sogar straflos töten.
Manchmal kam es aber tatsächlich eines Tages so weit, dass sie von ihm auch verlangte, ihren toten Mann im Bett zu ersetzen. Schließlich brauchte sie Kinder, die sie im Alter versorgten. Das war damals nichts Ungewöhnliches und für uns ganz normal. Womit wir jetzt zu dem für dich wichtigen Teil kommen, Ashton.« Sean sah ihn bedeutungsvoll an. »Obwohl Cronos und ich uns schon seit Jahrtausenden nicht mehr allzu viel zu sagen hatten und die meisten unserer Begegnungen mit einem handfesten Streit endeten, so war er doch mein Sohn, den ich liebte. Somit schuldest du mir einen Sohn. Du willst deine Schuld sühnen, also verlange ich von dir, dass du Cronos’ Platz einnimmst als ein Teil meiner Familie.«
Ashton starrte ihn an und glaubte, sich verhört zu haben. »Wie stellst du dir das vor?«, fragte er schließlich.
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