Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
lange wach. Es war schon taghell, als sie die Müdigkeit übermannte, die sich während der Prüfungstage angesammelt hatte, und die Gespräche zum Erliegen kamen. Alle fielen in einen bleiernen Schlaf, aus dem Suvaïdar plötzlich hochschoss. Sie fragte sich, was sie geweckt haben könnte. Die sorgfältig geschlossenen Fensterläden ließen keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch. Suvaïdar sah lediglich tanzenden, silbrig glänzenden Staub. Die Sonne musste immer noch hoch am Himmel stehen, und die anderen an ihrer Seite schliefen tief und fest.
Ihr Blick glitt über die drei Silhouetten auf der Matte. Ihre Sei-Hey durfte sie auch weiterhin mit ihrem Kindernamen ansprechen, da sie – abgesehen von Wang – die einzigen Shiro waren, die Suvaïdar als enge Freunde betrachtete und in deren Gesellschaft sie sich wohlfühlte. Die Sei-Hey duellieren sich nicht untereinander; wenn doch, waren es seltene Ausnahmen. War man mit seinem Sei-Hey zusammen, musste man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Saïda hatte sich während des Schlafens freigestrampelt. Das Betttuch hatte sich um ihre Beine gewickelt. Nur ihr fester, muskulöser Po und die Schultern waren unbedeckt. Auf dem linken Schulterblatt war die Haut rund um die frische Tätowierung des Jestak-Clans noch ganz rot. Sie zeigte ein altes terrestrisches Tier, wahrscheinlich eines aus der Mythologie. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Reptil, besaß allerdings keine Beine. Man konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieses Wesen sich bewegen könnte. Vielleicht handelte es sich um eines der mythischen fliegenden Tiere, über die Suvaïdar irgendwann einmal etwas gelesen hatte. Wie aber konnte ein Tier fliegen, wo es doch viel schwerer als Luft war? Möglicherweise hatte es eine Art Motor, wie die medizinischen Apparate im Lebenshaus, überlegte Suvaïdar und musste bei dieser absurden Vorstellung lächeln.
Aus einem Nachbarzimmer drang der Lärm zweier sich streitender Personen. Zweifellos war Suvaïdar davon wach geworden. Neugierig stand sie auf und verließ – ohne sich weitere Gedanken zu machen – das Zimmer, um mehr mitzubekommen. Shiro erhoben nur sehr selten die Stimme: Wenn sie wütend waren und sich stritten, geschah es in förmlicher Höflichkeit, ehe sie sich in der nächstgelegenen Akademie zum Säbelfechten verabredeten.
Vom Flur aus konnte Suvaïdar die Stimmen gut hören; sie gehörten einer Frau und einem Mann. Die Frau, die außer sich zu sein schein, war niemand anders als ihre Mutter.
»In diesem Jahr fehlen sieben«, sagte sie aufgebracht, »und es besteht kaum noch Hoffnung, dass sie zurückkommen. Der Wind wird stärker, und selbst wenn sie noch am Leben sein sollten, wissen wir doch, dass niemand im Freien einen Orkan überleben kann – weder in Sovesta noch in den Hügeln. Die Volljährigkeitsprüfungen sind eine anachronistische Absurdität, würdig eines Volkes von Wilden!«
»Aber sie sind eine jahrhundertealte Tradition.« Die Stimmedes Mannes verriet die Verzweiflung eines Menschen, der seine Worte bereits mehrmals wiederholt hatte. »Du wirst sie nicht abschaffen können, auch nicht in deiner Eigenschaft als Sadaï.«
»Und wozu soll mein Amt dann gut sein? Beschränkt meine Autorität sich darauf, dass ich festlegen darf, wie viele Personen jeder Clan für die öffentlichen Arbeiten bereitzustellen hat? Jedes Mal, wenn ich etwas verändern möchte, pralle ich mit dem Rat zusammen, der eisern auf seinen Standpunkten beharrt, und mit den Traditionen, die so unverrückbar zu sein scheinen wie der Beginn der Trockenzeit oder Ebbe und Flut.«
Suvaïdar klebte förmlich an der Wand aus grauem Stein und lauschte. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was passieren könnte, wenn man sie erwischte. Der Mann und ihre Mutter unterhielten sich nun in normaler Stimmlage; vielleicht waren sie ein bisschen lauter als gewöhnlich. Suvaïdar schwankte, doch ihre Neugier war stärker. Sie hatte ihre Mutter vor der Zeremonie am Vortag nur zweimal gesehen, stets bei offiziellen Anlässen, bei denen Haridar sich so höflich und distanziert gezeigt hatte, wie es sich als Shiro-Dame geziemte. Es war das erste Mal, dass hinter der Fassade der wirkliche Mensch zum Vorschein kam, der sich sehr vom Bild in der Öffentlichkeit unterschied.
Der Mann, der ihr widersprach, musste ihr Berater sein, denn niemand anderer hätte es gewagt, ihr gegenüber so offen aufzutreten. Und die Art, wie sie miteinander umgingen, bezeugte mehr als alles andere, dass sie
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