Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Den Wert des zweiten werde ich allerdings selbst herausfinden müssen, nicht wahr?«
Wendra überlegte. »Wenn Ihr den Jungen findet, wird es Euer Schaden nicht sein, das versichere ich Euch.«
»Sehr klug«, sagte Jastail und drückte beinahe zärtlich Wendras Taille, die er wieder umschlungen hielt. »Mich zum Partner zu machen. Ihr habt ja gesehen, wie es meinen Begleitern ergeht, Teuerste. Überlegt Euch gut, mit wem Ihr Euch verbündet. Ich denke, bald werden wir weniger Geheimnisse voreinander haben. Aber die Ungewissheit macht die Zeit bis dahin umso reizvoller.« Der Straßenräuber lächelte.
Der unbefestigte, schmale Weg wand sich durch die Schluchten, bis die Berge zu breiten, sanften Hügeln ausliefen. An einer Weggabelung zweigte ein noch schmalerer Trampelpfad gen Süden ab, auf der dem Flusstal abgewandten Seite der Berge. Jastail wies Wendra an, den südlichen Weg zu nehmen. Eine Stunde später konnte das Pferd nicht mehr weiter.
Am Abend entzündete Jastail ein Feuer mit Holz, das Wendra gesammelt hatte. Sie war völlig durchgefroren; seit dem unfreiwilligen Bad im Fluss war ihr nicht mehr richtig warm geworden. Die Knochen in ihren Beinen fühlten sich zerbrechlich und zittrig an. Eine faule Sonne versank hinter den Bergen rechts von ihr und tauchte sie in Schatten, während die wenigen Wolken in strahlenden Rottönen leuchteten.
Jastail hatte sie von dem Weg weggeführt, um Begegnungen mit Reisenden zu vermeiden. Allerdings wusste er, dass Wendra nicht zu fliehen beabsichtigte, da war sie sicher. Ein seltsamer Mann , dachte sie, aber einer, der sich jede Entscheidung gründlich überlegt. Er wärmte sich die Hände am Feuer, und dessen weiches Licht ließ sein kantiges Gesicht, das ganz so wirkte, als hätte er nie auch nur eine Nacht unter einem Dach geschlafen, sanfter erscheinen.
Trotz des klaren Himmels wurde die Luft nicht allzu kühl, und langsam wich die Kälte aus Wendras Körper. Jastail erwärmte Dörrfleisch und Brot auf einem Stein am Feuer, reichte Wendra die Hälfte und lehnte sich an einen niedrigen Felsbrocken zurück, um schweigend zu essen. Der Wegelagerer starrte nachdenklich in die Flammen, und in seinen Augen flackerte der Feuerschein.
Als es ganz dunkel war, heulten Steppenwölfe, und kleine Vögel piepsten. Das erinnerte Wendra an den stillen Frieden des Helligtals. Sie und Tahn hatten viele solche Abende zusammen verbracht, ein Feuer in Gang gehalten und ihres Vaters gedacht. Sie erinnerte sich daran, wie gern sie die Feldstein-Taverne besucht hatte, um Honigwein zu trinken, der in einem kalten Keller gereift war, und dabei den blumig ausgeschmückten Geschichten der Reisenden zu lauschen. Balatin hatte sie oft dorthin begleitet. Dann waren sie im Mondlicht zusammen nach Hause gegangen, und ihr Vater hatte ihr erklärt, was an den Geschichten der Vorleser die Wahrheit und welche Teile Übertreibungen waren, die den Zuhörern gefallen sollten. Bald wurde das zu einer Art Spiel, und sie konnte die Wahrheit hinter der Lüge beinahe ebenso gut erkennen wie ihr Vater. Tahn hatte sie nicht immer begleitet, aber wenn er dabei gewesen war, hatte sie stets den Eindruck gehabt, dass ihn die Geschichten selbst nicht so sehr interessierten wie der Grund, weshalb die Leser sie erzählten. Auf dem Heimweg war er schweigend neben ihnen hergegangen und hatte nur hin und wieder eine Bemerkung über Einsamkeit gemacht, die Wendra nie verstand, weil sie sich nur an die Fröhlichkeit unter Hambleys Gästen erinnern konnte.
Sie schaute über das Feuer zu Jastail hinüber und dachte darüber nach, dass die Lachfalten in seinem Gesicht das Werk von Sarkasmus, Spott und Trug waren. Ein Lächeln oder Lachen auf diesen angenehmen Zügen entsprang nicht der Belustigung, sondern diente dazu, das Bild zu malen, das er anderen zeigen wollte. Die hohlwangige, müde Maske, die er am Ende eines so harten Tages zeigte, war wohl der natürlichste Ausdruck, den Wendra je bei ihm gesehen hatte. Die Worte des alten Mannes auf dem Flussschiff gingen ihr durch den Kopf: Zu weit. Und dennoch – wenn Jastail lachte, sah es echt aus und fühlte sich auch so an. Der Gedanke machte Wendra trotz des heißen Feuers schaudern. Dass Jastail Vergnügen an den Dingen fand, bei denen sie ihn schon beobachtet hatte, ließ sie innerlich frieren, wie der Fluss sie nicht hatte frieren lassen.
»Ist es noch weit bis zu dem Jungen?«, fragte Wendra in der Hoffnung, sich von ihren trübseligen Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher