Das Gift der Engel
lesen. Es stand nur da, die Leiche habe bereits mehrere Tage an der Fundstelle gelegen. Alban überlegte. Joch war bei Zimmermanns Besuch also schon tot gewesen.
»Woher wusstest du, dass das in der heutigen Zeitung steht?«, fragte er.
»Beim Bäcker musste ich zwei Minuten warten. Und da redeten die Leute über nichts anderes. Jetzt erzähl schon. Wieso ist wegen dieser Sache da euer Quartettabend geplatzt? Und was hat der Mann mit dir zu tun?«
Alban nahm einen Schluck Kaffee und berichtete über Kesslers Verhör. Als er fertig war, griff er zu dem Wasserglas und stürzte es mit einem Zug hinunter. Dann stand er auf. »Ich muss jetzt los.«
»Gibt’s irgendwas Besonderes?« Normalerweise ging Alban morgens nie aus dem Haus. Sein Vormittagspensum bestand darin, Fachpresse zu studieren und seine Rezensionen zu redigieren.
»Die Bürokratie. Gerhard muss meine Aussage noch offiziell aufnehmen. Ich soll ins Polizeipräsidium kommen.«
Alban liebte Godesberg und Bonn. Aber die Gegend dazwischen, wo die B9 auf die Autobahnbrücke der A562 abzweigte, erfüllte ihn mit Abscheu. Genau an dieser Stelle befand sich ein gigantischer grauer Kasten, der auf Alban immer den Eindruck eines monströsen futuristischen Bunkers machte: das Polizeipräsidium. Kesslers Arbeitsplatz.
Bis zu diesem Tag war Alban noch nie im Inneren des grauen Kastens gewesen, und er hoffte, dass sich das auch nicht wiederholen würde. Die Chancen dafür standen nicht schlecht. Immerhin wusste man seit längerer Zeit, dass die Polizei demnächst auf die andere Rheinseite ziehen würde. Dann wäre man diesen Bunker los, aber ein Trost war das noch lange nicht. Erstens entstand drüben in Ramersdorf gerade ein neuer, wahrscheinlich noch viel scheußlicherer Kasten, und zweitens befand sich hier der in Albans Augen auch nicht gerade dekorative Sitz der Telekom, die bereits gegenüber, wo einst das Konrad-Adenauer-Haus gestanden hatte, mit einem neuen Bauprojekt zugange war.
Kessler studierte gerade eine Akte beschäftigt, als Alban sein Büro betrat. »Bitte setz dich«, sagte der Hauptkommissar. Er blätterte in einem Ordner; dann zog er einen beschriebenen Bogen Papier hervor. Sein Gesicht besaß eine ungesunde, fast graue Farbe. Immer wieder fuhr er sich durch sein ungekämmtes braunes Haar. »Wir haben hier alles schon mal zu Protokoll gebracht, was du mir gestern erzählt hast.«
Alban bemerkte, dass sich Kesslers Stimme rau anhörte. Schlafmangel leistet Infektionen Vorschub, dachte er.
»Lies es dir bitte durch. Wenn alles in Ordnung ist, unterschreibst du bitte hier unten.« Er deutete auf eine Linie am Ende des Schriftstücks, wo er ein Kreuz gemacht hatte.
Alban studierte den Schriftsatz. Er fand seine Darlegungen in präzisem Bürokratendeutsch wiedergegeben und konnte keine sachlichen Abweichungen feststellen.
Er hob den Blick. Dabei fiel ihm die Aussicht auf das trostlose Brachland gegenüber auf. Die Autobahn, die gleich daneben in einer schnurgeraden Piste über den Rhein führte, schien das schöne Tal zu vergewaltigen.
Kessler, der sich wieder einer Akte zugewandt hatte, tat ihm leid. Im Grunde litt er wahrscheinlich mehr darunter, dass der Quartettabend ausgefallen war, als er, Alban, der sich tagtäglich in seiner Villa mit Musik beschäftigen durfte und seine Zeit nicht in einem so trostlosen Büro zubringen musste.
Alban holte seinen Stift hervor und unterschrieb. Kessler schreckte hoch. »Vielen Dank, Nikolaus. Und glaub mir, es tut mir wirklich leid wegen gestern.«
Alban schüttelte den Kopf. »Das macht doch nichts. – Du hast wenig geschlafen heute Nacht, oder?«
»Gar nicht.«
»Ihr habt Herrn Zimmermann doch sicher Bescheid gesagt, dass sein Freund tot ist?«, fragte Alban. »Wie hat er denn reagiert? Es muss furchtbar für ihn gewesen sein.«
»Wir haben es ihm mitgeteilt.« Kesslers Blick wurde hart. »Und wir haben ihn festgenommen.«
»Was?«
»Wir sind sicher, dass Zimmermann Joch ermordet hat.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Du hast uns auf die richtige Spur gebracht, Nikolaus. Vielen Dank.«
»Aber er war doch bei mir und …«
»Das weiß ich. Du hast es ja ausgesagt.«
»Er hat sich nach seinem Freund erkundigt. Er hat ihn gesucht!«
»Er hat dir was vorgemacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte er ihn bereits umgebracht. Erschlagen.«
»Aber warum ist er denn dann überhaupt zu mir gekommen?«
Kessler hob die Schultern und streckte die Arme von sich. Offensichtlich war er nicht nur übermüdet,
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