Das Glück in glücksfernen Zeiten
Verwilderung. Denn Traudel wird, daran gibt es für mich keinen Zweifel, das Kinder-kriegen-Wollen gegen mich durchsetzen. Möglicherweise wird sie mich nach der Geburt eines Kindes sogar wegschicken, wenn ich mich nicht anpasse. In den Zeitungen steht, daß es immer mehr Frauen gibt, die von einem Mann nur die Befruchtung wollen; danach kann der Mann gehen. Mit sinnloser Heftigkeit denke ich in den dunklen Saal hinein, daß ich mich nicht wegschicken lassen werde. Es wäre schrecklich für mich, ein vor die Tür gesetzter Vater zu sein, der sein Kind nicht sehen darf, weil die Mutter es so will. Inzwischen habe ich den Kontakt zu dem vor mir ablaufenden Theaterstück weitgehend verloren.Die Erschrockenheit hat mich in ihr eigenes Dunkel eingehüllt. Momentweise komme ich mir selbst vor wie die Hauptfigur eines untergegangenen Theaterstücks, nein, ich meine: wie die versunkene Hauptfigur eines niemals untergehenden Theaterstücks. Traudel hingegen hat in dem Stück unsere eigene Problematik offenbar nicht erkannt. Jedenfalls kann ich in ihrem Gesicht keine Spuren von Irritation oder Erschütterung erkennen. Nach dem Ende des vierten Aktes klatscht sie lebhaft Beifall und flüstert mir zu, daß sie schon sehr lange nicht mehr einen so eindrucksvollen Theaterabend erlebt habe. Eine Frau, der das Leben gerade gefällt, wird dadurch noch schöner. Traudel zieht ihr schimmerndes Seidenjäckchen über und klatscht im Stehen weiter. Sechsmal kehren die Schauspieler auf die Bühne zurück, dann verebbt der Beifall. Das Lokal, in dem wir einen Tisch bestellt haben, ist etwa zehn Gehminuten vom Theater entfernt. Die Luft ist lau, fast schwül. Das warme Wetter hat die Teer-Einfassungen der Schienen und Pflastersteine so sehr aufgeweicht, daß man auf der Straße fast wie auf Teppichen geht. Auf dem Weg zum Restaurant redet Traudel in dringlichem Ton darüber, daß wir in Zukunft unbedingt öfter ins Theater gehen müssen.
Das haben wir uns schon oft vorgenommen, sage ich.
Warum machen wir es dann nicht?
Wir müssen zu lange arbeiten, so daß wir für einen plötzlichen Theaterabend nicht mehr zurechtkommen, sage ich; wenn ich noch einen Termin gehabt hätte, hättest du allein ins Theater gehen müssen.
Das hätte ich nicht gemacht, sagt Traudel.
Warum nicht?
Ich kann mich nur richtig freuen, wenn du dabei bist und dich mitfreust. Wenn ich allein bin, komme ich von dem Gedanken nicht los, daß ich eine verdammte Egoistin bin.
Wir lachen.
Meine heimliche Strategie ist, Traudel möge plötzlich erkennen, daß sie, wenn sie erst Mutter ist, noch seltener ins Theater kommen wird. Aber meine Strategie führt nicht zum Ziel; wahrscheinlich fallen mir die richtigen Sätze nicht ein.
Aber du bist keine verdammte Egoistin, sage ich, und du weißt es.
Ich weiß es, sagt Traudel, aber mein Gefühl beschuldigt mich trotzdem.
Wie kompliziert du bist, sage ich.
Kennst du solche Widersprüche nicht?
Und wie! rufe ich aus. Meine Widersprüche sind noch viel krasser.
Dann bin ich beruhigt, sagt Traudel.
Wir lachen erneut über unsere Widersprüche und betreten das Restaurant, in dem wir einen Tisch reserviert haben. Fast alle Tische sind besetzt. Mir kommt es so vor, als würde ich einzelne Paare aus dem Theater wiedererkennen. Es sind gut verdienende, vermutlich kinderlose Paare, gehobener Mittelstand. Die Woche über arbeiten sie hart, trinken wenig, rauchen nicht und gehen früh zu Bett, damit sie am nächsten Morgen wieder fit sind. Es behagt mir nicht, daß wir dieser Schicht angehören. Ich möchte nicht Teil einer empirisch festgestellten Gruppe sein. Ein Ober führt uns zu einem kleinen Tisch an der hinteren Wand und reicht uns zwei in Kunstleder eingebundene Speisekarten. Traudel ist guter Laune und blättert in der Speisekarte. Obwohl wir unseren gemeinsamen Angeberabend verbringen, werden wir Menüs unter 18 Euro wählen. Als Mittelständler, die auch abends aufsteigen, fallen wir nicht aus dem Rahmen. Der Ober bringt uns angewärmtes italienisches Brot und ein Schälchen mit schwarzen Oliven. Traudel entscheidet sich für gefüllte Seezungenröllchen mit Fenchelragout, ich wähle Kalbsrückenscheibenmit Mohnkartoffelkrapfen, dazu zwei Gläser Bordeaux und eine Flasche Mineralwasser. Traudel plaudert, sie lacht mich an und manchmal auch die Leute um uns herum. Sie redet undeutlich, aber begeistert über das Stück. Ich erwähne, daß Eugene O’Neill viele Jahre lang nicht wußte, was aus ihm werden sollte, daß er
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