Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
immer. Die Liebe, die du für deine Mutter empfindest, gehört nicht zu der Sorte, die der Tod auslöschen kann.“
Ich senkte den Kopf und starrte in meinen Tee, wollte nicht, dass er sah, wie ich innerlich zerbrach. „Ohne sie weiß ich nicht, wer ich bin.“
„Dann wirst du die Chance haben, das herauszufinden, bevor sie geht.“
Henry stellte seine Tasse ab. „Und wenn ihr einander Lebewohl sagt, wird sie die glückliche Gewissheit haben, dass es dir gut gehen wird.“
Traurig nickte ich. Also würde ich es auch für sie tun. Sie wolltewissen, dass es mir gut gehen würde, und das war etwas, das ich ihr noch nicht hatte versprechen können. Doch die Chance, nur noch einmal mit ihr zu sprechen, ihr ein letztes Mal sagen zu können, dass ich sie liebte – und der Hauch einer Hoffnung, ich könnte ihr dabei in die Augen sehen und ihr versprechen, dass ich zurechtkommen würde, sodass sie ohne Sorge oder Schuldgefühle loslassen könnte –, das war es wert.
„Dann soll es so geschehen“, sagte Henry sanft. „Den Winter über wirst du mein Gast sein. Sofia wird dich zu deinem Zimmer begleiten, und bis morgen wird nichts weiter von dir erwartet.“
Wieder nickte ich. Jetzt war es also so weit – ich war gefangen. Dies würde für die nächsten sechs Monate mein Zuhause sein. Plötzlich wirkte der Raum deutlich kleiner als zuvor.
„Henry?“, brachte ich schüchtern hervor.
„Ja?“
„Hat Sofia gewusst, dass das hier passieren würde?“
Einige Sekunden lang betrachtete Henry mich, als versuchte er zu entscheiden, ob ich ihm glauben würde oder nicht.
„Wir haben dich beobachtet, ja.“
Ich wagte nicht zu fragen, wer wir war.
„Was ist das hier für ein Ort?“
Er sah belustigt aus. „Hast du das noch nicht herausgefunden?“
Ich spürte, dass ich errötete. Immerhin schien noch ein letzter Rest Blut in meinem Kopf zu sein, was bedeutete, dass ich eine gewisse Chance hatte, aufzustehen, ohne dabei in Ohnmacht zu fallen.
„Ich war ein bisschen mit anderen Sachen beschäftigt.“
Henry stand auf und reichte mir die Hand. Ich nahm sie nicht, doch das schien ihn nicht zu stören. „Es hat viele Namen. Elysium, Annwn, Paradies – manche nennen es sogar den Garten Eden.“
Er lächelte, als hätte er einen klugen Witz gemacht. Ich verstand gar nichts, und meine Verwirrung musste sich auf meinem Gesicht abzeichnen, denn er fuhr fort, ohne dass ich noch einmal nachfragen musste.
„Dies ist das Tor zwischen den Lebenden und den Toten“, erklärte er. „Du bist noch lebendig. Die anderen auf dem Anwesen sind schon vor sehr langer Zeit gestorben.“
Mich überlief ein kalter Schauer. „Und du?“
„Ich?“ Sein Mundwinkel zuckte. „Ich herrsche über die Toten. Ich gehöre nicht zu ihnen.
7. KAPITEL
DAS UNMÖGLICHE
Meine Räume waren erstaunlich gemütlich. Anders als der Rest des Hauses schienen sie nicht sofort darauf hinzudeuten, dass sie Teil eines sehr reichen und mächtigen Haushalts waren. Stattdessen war meine Suite zurückhaltend eingerichtet – der einzige wirkliche Luxus war mein Schlafplatz: ein riesengroßes Himmelbett. Von genau so einem Bett hatte ich schon immer geträumt. Ein Teil von mir fragte sich, ob Henry das geahnt hatte.
Jeder schien zu wissen, dass ich da war, als wäre ich eine Berühmtheit. Hin und wieder hörte ich Flüstern und Gekicher von der anderen Seite meiner Tür her, und wann immer ich durch das riesige Erkerfenster blickte, konnte ich ein paar der Gartenarbeiter zu mir hinaufstarren sehen, als wüssten sie, dass ich sie beobachtete. Es gefiel mir nicht, Gesprächsthema zu sein, aber ich konnte nicht besonders viel dagegen tun, außer die Vorhänge zu schließen und meinen Kopf unter einem Berg Kissen zu vergraben.
Der Tag verging schnell, und es dauerte nicht lange, bis Sofia mir das Abendessen brachte. Ich war immer noch verärgert, dass sie mir nicht früher gesagt hatte, dass sie auf Eden Manor wohnte. Also murmelte ich meinen Dank, ohne zu ihr aufzublicken, und weigerte mich, auch nur eine ihrer Fragen zu beantworten. Wie es mir ging, war sowieso nicht gerade ein Geheimnis.
Als sie wieder gegangen war, stocherte ich nur auf dem Teller herum. Meine Angst vor dem, was am folgenden Tag passieren würde, hatte mir jeglichen Appetit genommen. Ich war zwar nicht in meinem Zimmer eingesperrt, aber draußen gab es für mich auch nicht unbedingt viel zu tun. Zumindest jetzt noch nicht, da ich wusste, wie leicht ich mich verlaufen
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