Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
nach Sachsen zurückkehren würde. Auch das wusste Editha, und darum fürchtete sie um ihn.
Es war indes etwas, worüber sie niemals sprachen. Ein König musste Krieg führen. Der Königin oblag es, zurückzubleiben und für seine siegreiche und sichere Heimkehr zu beten. So war die göttliche Ordnung der Dinge, an die sie beide unerschütterlich glaubten, und so gab es einfach nichts, was sie darüber hätten sagen wollen.
»Bist du wirklich sicher, dass du hier in Quedlinburg bleiben willst?«, fragte er sie leise. »Wird Magdeburg dir nicht fehlen?«
»Ganz sicher«, räumte Editha ein. »Aber die Stille hier im Stift wird mir wohltun. Ich habe mir schon oft gewünscht, hier einmal einige Wochen zu verbringen.« Wieder glitt ihr Blick zu Dragomira, vielleicht merkte sie es nicht einmal. Aber ein verräterischer Hauch von Triumph schwang in ihrer Stimme mit, als sie fortfuhr: »Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen.«
Er nickte. »Nun, wo du schon hier bist, könntest du ein wachsames Auge auf meine Mutter halten«, schlug er vor. »Wenn Henning mir wieder durch die Finger schlüpfen sollte, erfährt sie vermutlich als Erste, wo er sich verkriecht.«
Er konnte ganz unverblümt sprechen, denn die Äbtissin war dem Hochzeitsmahl ferngeblieben. Vermutlich, um Tugomir zu beleidigen. Sie hatte ihn nie anders als schroff und feindselig behandelt, ganz besonders, nachdem er Otto damals vor all den Jahren das Leben gerettet hatte. Otto hatte allerdings den Verdacht, dass Tugomir die Abwesenheit der Königinmutter nicht einmal bemerkte. So wie er die erlesenen Speisen kaum eines Blickes würdigte, die man ihm vorsetzte. Prinz Tugomir, stellte der König amüsiert fest, hatte nur Augen für seine Braut.
Aber eins galt es noch zu tun, ehe es Zeit wurde, das Hochzeitspaar ins Brautgemach zu geleiten, und ehe ihre Wege sich am nächsten Tag für ungewisse Zeit trennen würden – womöglich für immer.
Der König erhob sich von der Bank. »Fürst Tugomir …«
Der stand ebenfalls auf, entgegnete aber kopfschüttelnd: »Das bin ich noch nicht.«
»Dem Recht nach schon«, widersprach Otto. »Ich habe hier etwas, das ich dir geben möchte.« Er öffnete den bestickten Beutel an seinem Gürtel und holte unter leisem Klimpern die schwere Goldkette heraus. Beinah so ehrfürchtig, als handele es sich um eine kostbare Reliquie, nahm er sie in beide Hände. »Du warst an der Seite meines Bruders, als er sie abgelegt hat. Dann war sie verloren, und du hast sie mir zurückgebracht. Niemand wird Thankmar je ersetzen können, weder den Bruder, den ich verloren habe, noch den Freund, den du verloren hast. Aber ich will, dass du sie bekommst. Trage sie zum Andenken an ihn, und sie soll … ein Band zwischen dir und mir sein.«
Tugomir stand vor ihm, als wäre er zur Salzsäule erstarrt. Er sagte keinen Ton, hielt den Blick auf das kostbare und prunkvolle Schmuckstück gerichtet. Dann atmete er langsam tief durch, sah dem König für einen langen Moment ins Gesicht, und schließlich beugte er den Kopf. Bedächtig legte Otto ihm die Kette um, ließ die Hände über die Goldglieder gleiten, um sie auf Tugomirs Schultern zu drapieren, und trat schließlich einen halben Schritt zurück.
»Lass uns beten, dass auch zwischen Sachsen und Hevellern, zwischen Deutschen und Slawen ein Band geknüpft werden kann«, sagte der König.
»Gott und seine Heiligen vollbringen jeden Tag größere Wunder als das, habe ich gelernt.«
Einen Augenblick zögerten sie noch, dann traten sie gleichzeitig einen halben Schritt aufeinander zu und umfassten sich an den Unterarmen.
Brandenburg, Juni 939
Tugomir hielt sein Pferd an. »Das ist sie.«
Er sprach so leise, dass nur Semela und Alveradis ihn hören konnten, die gleich hinter ihm ritten.
»Das ist die Brandenburg?«, fragte Widukind ungläubig, der mit Dragomira aufgeschlossen hatte. »Tugomir, das ist keine Burg, sondern eine Stadt .«
Tugomir antwortete nicht. Plötzlich und ohne Vorwarnung war der Wald zurückgeblieben. Vor ihnen erstreckte sich eine Wiese, hier und da mit grasenden Schafen betupft, zum Ufer der Havel. Und dort auf der Insel inmitten des breiten Flusses erhob sich die stolze Festung, aus welcher er und seine Schwester vor mehr als zehn Jahren verschleppt worden waren – für Tugomir der schönste Ort auf der Welt. Und sie sah noch genauso aus wie damals, als er sich für einen letzten Blick umgewandt und zurückgeschaut hatte. Nur dass es ein grauer,
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