Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
zurück nach Sachsen. Es war so kalt. So kalt … Und ich fand nichts zu essen.«
All das war die lieblichste Musik in Ottos Ohren. Er konnte sich vorstellen, wie grässlich es gewesen war: Henning hatte nicht gewagt, an das Tor irgendeiner Burg zu klopfen, weil er befürchten musste, in Gefangenschaft zu geraten. Also hatte er vermutlich versucht, bei den Bauern zu betteln, die jedoch selbst Hunger litten in diesem gnadenlosen Winter und vermutlich nicht sehr freigiebig gewesen waren.
Doch wenn Henning tatsächlich von Westen gekommen war, hatte er Quedlinburg passiert. Otto hatte Mühe zu glauben, dass sein Bruder der Versuchung widerstanden haben sollte, sich bei ihrer Mutter Rat, Zuspruch und vor allem eine warme Mahlzeit zu holen.
»Ich will, dass du mir ins Gesicht siehst und ausnahmsweise einmal die Wahrheit sagst«, befahl der König leise.
Langsam hob Henning den Kopf, und erst jetzt sah Otto, wie krank sein Bruder war, die Wangen unnatürlich gerötet, ein fiebriger Glanz in den Augen.
»Warst du in Quedlinburg?«
Henning fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und nickte. »Am Heiligen Abend. Aber Bischof Bernhard war dort für die Christmette, und er hatte eine halbe Armee mitgebracht. Ich hab … mich nicht in die Pfalz getraut.«
Das mochte stimmen. Der Bischof von Halberstadt hatte sich dem Hof erst an St. Stephanus angeschlossen und dem König und der Königin weihnachtliche Segenswünsche der Äbtissin von Quedlinburg überbracht.
»Und so bist du also zu mir gekommen. Warum?«
»Weil … weil ich das Gefühl hab, ich muss bald sterben. Und ich komme in die Hölle, wenn ich sterbe, ohne dass Ihr mir vorher vergeben habt.«
»Es ist Gott, dessen Vergebung du suchen musst. Nur er kann dich vor der Verdammnis retten, ich nicht. Ich habe es lange genug versucht, aber du bist ein zu schwerer Fall. Dir kann wirklich nur noch Gott helfen.«
»Bitte …« Henning kniff die Augen zu. »Ich flehe dich an, Bruder …«
Otto zuckte zusammen und ohrfeigte ihn. »Untersteh dich!«
Henning ging zu Boden wie ein umgemähter Weizenhalm. Er schlang schützend die Arme um den Kopf und lag dann still.
Der König sah auf ihn hinab, angewidert und doch erschüttert. Trotz allem, was Henning angerichtet hatte, trotz seines Verrats und seiner Tücke verspürte Otto den Drang, ihn aufzuheben und in seinen eigenen Hermelinmantel zu hüllen. Henning hätte ihn nicht daran erinnern müssen, dass er sein Bruder war. Otto wusste das nur zu gut, und nie hatte diese Bürde so schwer auf ihm gelastet wie in diesem Moment.
»Du riskierst nicht viel, wenn du mir deine Vergebung schenkst, weißt du«, murmelte Henning in seinen zerlumpten Ärmel. »Ich werde sowieso draufgehen. Dann kannst du dich nobel fühlen, mir vergeben zu haben, das hast du doch so gern. Und falls nicht … Denkst du wirklich, ich hätte noch einen Funken Rebellion in mir, nachdem ich mich so entsetzlich vor dir gedemütigt habe? Glaubst du … irgendein Mann könnte danach noch derselbe sein?«
Ein gewöhnlicher Mann, nein , fuhr es dem König durch den Sinn. Doch ein Mann, den der Teufel zu ewiger Zwietracht verflucht hat? Wer weiß …
Zwei Wochen lang stand es auf Messers Schneide.
Otto hatte Brun geholt, und sie hatten Henning unbemerkt in Tugomirs verwaistes Haus geschafft. Dann hatte der König nach Bruder Dietrich geschickt, seinem neuen Leibarzt, ihn aber Stillschweigen geloben lassen. Otto und Brun waren sich einig, dass vorläufig niemand außerhalb der Familie von Hennings Rückkehr erfahren sollte.
Der Mönch hatte Henning heißen Kamillensud gegen das Fieber eingeflößt und heiße Milch mit Honig, weil der Kranke halb verhungert war, doch für die erfrorenen Fingerglieder wusste er kein Heilmittel. Also hatte Brun heimlich einen fahrenden Barbier aus der Stadt geholt, der den Prinzen nicht erkannte und ihm die zwei Finger ohne großes Gewese abgenommen hatte. Brun hatte gut gewählt, der Barbier erwies sich als erfahrener und gewissenhafter Handwerker. Völlig unbeeindruckt von Hennings Gejammer hatte er die kleine Säge mit sicherer Hand geführt und die Wunden mit Pech geschlossen. Erst als das getan war und Henning drei Tage später immer noch lebte, hatte Otto Editha einen Brief an seine Mutter diktiert und Udo damit nach Quedlinburg geschickt.
Wie nicht anders zu erwarten, war die Königinmutter umgehend herbeigeeilt, und zusammen mit Judith, die Otto ebenfalls benachrichtigt hatte, wachte sie am
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