Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
und …«
»… Minze«, schloss Semela, der an jedem der Säckchen schnupperte.
»Richtig. Und sei vorsichtig mit der Nachtbeere und dem Bilsenkraut, hörst du.«
Der junge Daleminzer nickte, während er einen kleinen Kessel mit Wasser füllte. »Giftig, ich weiß.« Er stellte den Kessel in die Glut des Kohlebeckens.
Alveradis war unruhiger geworden. Stöhnend warf sie sich auf die Seite, weg vom Licht und den Stimmen. Tugomir suchte einen Moment in seinem Korb, bis er einen Bernstein an einer Lederschnur fand. Er reichte ihn Judith. »Hier. Legt ihn ihr um.«
»Wozu soll das dienen?«, fragte sie. »Mein Gemahl duldet keinen heidnischen Zauber.«
»Das ist bedauerlich für Eure Tochter, Gräfin«, gab Tugomir zurück.
Sie wandte das Gesicht ab und senkte den Kopf.
Tugomir schämte sich seiner Schroffheit. Er hätte sich zwar dafür ohrfeigen können, dass er sich schämte, denn sie war Geros Weib, verflucht noch mal, aber er musste feststellen, dass er nicht viel dagegen machen konnte. »Jede Krankheit steht in Verbindung mit einem oder mehreren der vier Elemente«, erklärte er leise. Das war der Grund, warum er seine Heilpflanzen und -steine in vier Weidenkörben aufbewahrte. »Oder genauer gesagt, mit ihren Geistern. Es gibt Erdgeister, Luftgeister, Wassergeister und Feuergeister – jeweils gute und böse. Der Bernstein ist ein mächtiger Schutz gegen böse Feuergeister, die Fieber bringen. Euer Volk hat das einmal gewusst, Gräfin, darum ist der Bernstein als Schmuck so beliebt bei euch. Die Priester des Buchgottes haben Euch Euer einstiges Wissen nur gestohlen, so wie Eure alten Götter. Ihr habt es vergessen. Aber das macht es nicht weniger wahr. Lasst sie den Bernstein tragen. Glaubt mir, Eure Tochter braucht jeden Schutz, den sie bekommen kann.« Er unterbrach sich kurz. Nicht um sie auf die Folter zu spannen, sondern weil er gelernt hatte, dass schlechte Nachrichten leichter zu ertragen waren, wenn man sie langsam verabreicht bekam.
Als Judith ihn wieder anschaute, liefen Tränen über ihre Wangen. »Was ist es?«
»Wechselfieber.«
Sie stieß einen kleinen, hoffnungslosen Schrei aus und legte die Hand vor den Mund. »Aber … aber das kommt im Hochsommer«, versuchte sie abzuwehren.
Tugomir schüttelte den Kopf. »Es kommt, wann immer es will.«
Die Gräfin verbarg das Gesicht in den Händen und bemühte sich ohne großen Erfolg, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Wechselfieber?«, wiederholte Semela. »Was soll das denn sein?«
»Der Feuergeist kommt für einen Tag, zieht sich einen oder zwei Tage lang zurück, dann kommt er für einen Tag wieder«, antwortete sein Lehrmeister auf Slawisch.
»Das klingt jetzt nicht so schrecklich.«
»Hm. Er verschwindet für ein paar Wochen. Oder Monate. Und dann kommt er zurück.«
»Oh.« Semela klang unbehaglich. »Und … wie lange?«
»Manche sind ihn nach ein, zwei Jahren wieder los. Andere begleitet er ein Leben lang, und viele sterben jung an einem dieser Fieberanfälle. Dobromir sagte, sie sterben, wenn der Feuergeist irgendwann einen seiner Brüder mitbringt. Darum ist der Bernstein so wichtig: Gegen den Feuergeist, der bereits von dir Besitz ergriffen hat, kann der Stein nichts mehr ausrichten, aber gegen den zweiten schon. Also lass uns hoffen, dass Gero ihn ihr lässt.«
Semela seufzte und begann kopfschüttelnd, die Zutaten ins kochende Wasser zu geben. »Armes Elfchen …«
Als der Sud abgeseiht und ein wenig abgekühlt war, probierte Tugomir einen kleinen Schluck, um sicherzugehen, dass die Mischung stimmte. Er nickte Semela zu. »Gut gemacht. Du kannst wieder verschwinden.«
Der junge Mann packte die Säckchen und Tiegel zurück in den Korb, wünschte der Gräfin eine gute Nacht und ging hinaus.
Tugomir setzte sich auf die Bettkante, den Becher in der rechten Hand, und drehte das Mädchen mit der Linken behutsam zu sich um. »Ihr müsst trinken, Alveradis.«
Sie schlug langsam die Lider auf. Ihre Augen waren groß und glänzten fiebrig. Es war zu dämmrig in der Kammer, um die Farbe zu erkennen, aber er sah ihre Furcht. »Sira …«, murmelte sie undeutlich. »Wo ist sie?«
Er legte den Arm um ihre Schultern und richtete sie auf. »Wer ist Sira?«, fragte er die Gräfin.
Judith schüttelte müde den Kopf. »Sie fantasiert. Sira war ihre Hündin. Aber sie ist schon seit Monaten tot.«
Tugomir führte den Becher an die Lippen und entdeckte Schweißperlen auf der Stirn des Mädchens. Nach wenigen Augenblicken war der
Weitere Kostenlose Bücher