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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
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plötzlich ganz still im Zimmer, und dann hat die Karla gesagt: ›In dein Haus?‹ Und dann hat sie die Tür aufgemacht und ganz leise und kalt gesagt: ›Keine Sorge, ich werde dein Haus nicht mehr betreten.‹ Und ich hab durch die Tür die brennenden Kerzen gesehen und der Elfi ihr zufriedenes Gesicht und meinen Arthur bleich und betrunken. Die Karla hat noch in derselben Nacht ihre Sachen gepackt und ist fort. Sie war so ein entsetzlicher Dickkopf, da konnt ich sagen, was ich wollt. Sie kam nie mehr nach Haus.«
    Hanna rieb sich den Nacken und nippte an ihrem Kirschlikör. Was für eine dramatische Geschichte, die so sehr der modernen Angst vor großen Gefühlen widersprach! Aber Kürtchen erzählte mit so viel Betroffenheit, dass Hanna heftig schlucken musste und vorsichtshalber schnell noch einen Kirschlikör trank.
    Kürtchen schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück.
    »Entschuldigen Sie bitte, ich bin sehr müde. Ich hab letzte Nacht fast net geschlafen, weil mein Fuß so wehgetan hat. Ich mach Ihnen einen Vorschlag. Ich hab die Briefe aufgehoben, die die Karla mir geschrieben hat, nachdem sie weggegangen war. Ich denke … Sie sind ein liebes Mädchen, und es ist ja schon egal, wo die Karla doch jetzt auch tot ist und niemand mehr … Ich kann die Geschichte auch net … Es ist schwer. Nehmen Sie die Briefe mit. Machen Sie mal dort die oberste Schublade von der Kommode auf. Aber bitte seien Sie vorsichtig mit den Briefen, sie sind mir sehr wichtig.«
    Hanna versprach, sie zu hüten wie ihren Augapfel, versprach auch, ihre Tante herzlich zu grüßen. Dann umarmte sie Kürtchen spontan. »Danke für den wunderbaren Abend. Darf ich irgendwann wiederkommen und Kirschlikör trinken?«

11
    Elfi kam auf sie zugeschwebt, in einem blauen Samtkleid in der Farbe ihrer Augen, blau, blau wie ein Emailletopf. Die schwarzen Haare trug sie als Krone um den Kopf. Einzelne Strähnen lösten sich und fielen über ihre Schultern, dann floss die ganze schwarze Haarflut herunter bis auf ihre Füße. Die Haut an ihrem Hals klappte auf und flatterte Stückchen für Stückchen davon. Elfi wurde immer durchsichtiger, bis nur noch die Knochen vorhanden waren. Doch aus dem kahlen Schädel sahen diese unwahrscheinlich blauen Augen sie weiterhin an, fordernd und traurig.
    Hanna wachte langsam auf. Im Fenster stand grau ein Himmel, der noch nicht wusste, wie sich das Wetter entscheiden würde. Da waren noch immer diese Augen, vor dem Himmel, diese fordernden blauen Augen. Gegen ihren Willen wuchs in Hanna Mitleid mit diesem »Flüchtlingskind«, das sich mit seiner Schönheit einen Platz erkauft hatte, der zu einer einsamen Insel wurde.
    Flüchtlingskinder. Hannas Mutter hatte ein paar kleine Skizzen geschrieben, die sie ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatte – Erinnerungen aus ihrer Jugend in Bamberg – und die Hanna in ihrer Nachttischschublade aufbewahrte. Das dritte Blatt war dasjenige, das sie suchte.
    In der sorgfältigen Handschrift ihrer Mutter stand unter der Überschrift »Baracker«: »›Ich will nicht, dass du mit diesen Barackern spielst. Oder möchtest du Läuse bekommen?‹, hatte Mutti gesagt. Auf dem großen, leicht vertieften Gelände, wo später in den sechziger Jahren das Arbeitsamt und die Berufsschule gebaut wurden, hatte man nach dem Krieg Baracken-Unterkünfte für die Flüchtlinge errichtet. Dorthin zum Spielen zu gehen hatte für mich den Reiz des Abenteuers. Nicht nur, weil meine Eltern es mir verboten hatten. Es war so etwas wie das Anlegen an einer fremden Insel, wenn du nicht weißt, ob dich die wilden Einwohner anbeten oder auffressen werden. Würde ich beim Murmelspiel mitmachen dürfen, weil ich ihnen die Chance gab, mir nicht nur die tönernen, bunt bemalten Tatzer, sondern auch zwei oder drei von den schillernden oder milchigen Glaskugeln abzugewinnen? Oder würden sie mit Steinen werfen nach mir, dem sauberen, brav angezogenen Kind aus einem der feinen Häuser vorn am Kunigundendamm? Die Frage stellte sich jedes Mal neu, und die kurze Gabelsbergerstraße zwischen dem Kunigundendamm und dem Barackengelände hat viele halbe und ganze Fluchten, Herzklopfen und abgebissene Fingernägel gesehen. Gott sei Dank gab es aber auch so etwas wie einen offiziellen Grund, zu den Barackern zu gehen. In einem der Schuppen hatte jemand einen Rollerverleih aufgemacht. Fünf Pfennig für ein hölzernes Radelrutsch, das an jedem Stein hängen blieb, zwanzig Pfennig für einen Metallroller mit luftgefüllten

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