Das Haus Der Schwestern
hatte, an die sie nie mehr hatte denken wollen.
Barbara dachte an sich selbst als junges Mädchen, und es waren alles andere als angenehme Gedanken.
Sie hätte jedem heute leicht erzählen können, daß sie als Teenager zu dick gewesen war, es hätte ihr ohnehin niemand geglaubt. Nicht nur, weil sie eine so schlanke Figur hatte, sondern weil sie überhaupt in jeder Hinsicht perfekt aussah. Ihre Kleider und Schuhe, ihr Schmuck, ihre Frisur, ihr Make-up — immer war alles tadellos, und selbst das kritischste Auge hätte nie einen Makel feststellen können. Wenn sie sich lässig kleidete, war ihre Lässigkeit genau durchgestylt, wenn sie elegant auftrat, war es ebenso. Sie galt als hochdisziplinierte Erfolgsfrau, die ihr Leben hundertprozentig im Griff hatte. Barbara zu dick? Ausgeschlossen!
Sie hatte nicht nachts auf den Knien gelegen und verbotene Schüsseln ausgeleckt, aber sie hatte kontinuierlich gegessen und gegessen, bei jeder Gelegenheit, immerzu. Kartoffelchips vor allem, und von denen war ihr auch noch schlecht geworden, und sie hatte Pickel bekommen. Aber sie hatte nicht aufhören können. Süße, bunte Tröster hatte sie in sich hineingestopft — Gummibärchen, Schokolade und gezuckerte Erdnüsse. Sie war überzeugt gewesen, daß sie das deshalb tat, weil sie so unglücklich war über ihr Aussehen. Je fetter sie sich im Spiegel erblickte, desto hastiger mußte sie etwas in sich hineinstopfen, um ihren Kummer zu lindern. Ein schrecklicher Teufelskreis, in dem Ursache und Wirkung zum schönsten Desaster verschmolzen.
Viel später erst hatte sie überlegt, ob ihr unstillbarer Hunger einen tieferen Grund gehabt hatte, und obwohl sie nicht zur Amateurpsychologie neigte, war sie darauf gekommen, daß es an der Rivalität zu ihrem jüngeren Bruder gelegen haben mochte. Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, aber sie wußte, daß diese sich brennend einen Sohn gewünscht hatte.
»Für dich hatten wir uns nicht einmal einen Namen ausgedacht«, hatte sie Barbara manchmal erzählt, »so sicher war ich, daß du ein Junge sein würdest! «
Als der ersehnte Sohn dann fast acht Jahre nach Barbara zur Welt kam, war ihre Mutter vor Glück fast außer sich gewesen. Sie hatte sich, wie Barbara ehrlicherweise zugeben mußte, immer bemüht, beide Kinder völlig gleich zu behandeln, und doch war da etwas gewesen — ein Band zwischen ihr und ihrem Sohn, eine unsichtbare Nabelschnur, die nie durchtrennt worden war, eine wortlose Verständigung.
Barbara erinnerte sich nicht, spürbar darunter gelitten zu haben, aber latent mochte es in ihr geschwelt haben. Manchmal war da plötzlich ein Gefühl gewesen, von innen heraus zu frieren, scheinbar ohne Grund, und wenn sie dann aß und aß, kehrte langsam die Wärme zurück. Es mochte an ihrem Bruder gelegen haben, aber vielleicht war es auch etwas ganz anderes gewesen. Irgendwann gewann die Sache eine Eigendynamik. Sie fraß, heulte über ihr Spiegelbild und fraß wieder, um die Tränen versiegen zu lassen.
Und natürlich — kein Junge hatte sich für sie interessiert, nicht einer!
Barbara warf sich unruhig zur Seite, die Vergangenheit hatte sie jetzt fest im Griff und ließ nicht mehr los. Ihr wurde heiß im Gesicht, als ihr die Schulpartys einfielen, die sie gehaßt hatte, zu denen man aber hatte erscheinen müssen. Spaß war angesagt, Lustigsein das oberste Gebot. Sie erinnerte sich an enge Kellerräume mit schummriger Beleuchtung, an teils fetzige, teils verträumte Musik, an den Geruch nach Schweiß, Parfüm, Nudelsalat mit Mayonnaise und Alkohol, obwohl Alkohol verboten war. Die Paare hopsten auf der Tanzfläche herum oder — zu späterer Stunde — schoben sich eng umschlungen, förmlich ineinander verklammert, einen Schritt vor und einen zurück und schienen im wesentlichen schmusend auf einem Fleck zu verharren.
Barbara hockte für gewöhnlich neben dem aufsichtführenden Lehrer und bemühte sich krampfhaft, ein Gespräch in Gang zu bringen und aufrechtzuerhalten, damit es den Anschein hatte, sie sei viel zu sehr in eine tiefschürfende Unterhaltung verstrickt, um am Tanzen interessiert zu sein. Letztlich nahm ihr das niemand ab, und immer wieder mußte Barbara mit schamgeröteten Wangen peinvolle Minuten durchleben, wenn sich der Lehrer, in Besinnung auf seine pädagogischen Pflichten, irgendeinen Jungen schnappte und ihn mit den Worten: »Du tanzt jetzt mal mit Barbara! « auf das Mauerblümchen zuschubste. Der Junge verdrehte meist die
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