Das Haus Der Schwestern
daß es da noch zwei Kinder gibt. Es dauerte dann wiederum recht lange, bis wir Mr. Selley erneut aufspüren konnten, denn aus seiner letzten Wohnung hat man ihn wegen ständig wachsender Mietschulden hinausgeworfen. Er lebt allerdings immer noch in Bethnal Green, in einem abbruchreifen Haus. Keine Ahnung, womit er sich über Wasser hält. Jedenfalls sagte er, ja, er habe zwei Töchter, und die seien schon lange fort wegen der Luftangriffe. Er nannte Ihre Adresse, Mrs. Gray. Und hier bin ich nun.« Sie’ lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas.
»Die arme Alice«, sagte Frances leise, »jetzt ist sie tot. Wir waren einmal gute Freundinnen, wissen Sie.«
»Der schreckliche Krieg«, meinte Mrs. Parker, aber sie erlebte ständig solche Geschichten und mochte sich nicht lange mit Bedauern aufhalten. »Die Frage ist — was wird aus den Kindern?«
Frances spürte die eindringlichen Augen der Besucherin auf sich gerichtet und riß sich zusammen. Alice war gerade vor ihrem inneren Auge erschienen — die Alice, die sie in Erinnerung behalten wollte, die junge, starke Frau, zuversichtlich und entschlossen. An die spätere Alice mochte sie nicht denken. So, wie sie an ihren Vater und George nicht denken wollte, wie sie zuletzt gewesen waren.
Es hatte gute Zeiten gegeben, und deren Bilder wollte sie in ihrem Gedächtnis bewahren.
»Ja«, wiederholte sie, »was wird aus den Kindern? Der Vater...«
»Der Vater sagt, er fühle sich im Moment völlig überfordert, wenn sie zu ihm zurückkehrten, und meiner Ansicht nach wäre es eine Katastrophe, die Mädchen jetzt zu ihm zu schicken. Er könnte natürlich darauf bestehen, und wir könnten nichts dagegen tun, aber er ist keineswegs interessiert. Ich habe auch keine Ahnung, wie in diesem Loch, in dem er haust, zwei Kinder leben sollen.«
Frances merkte, daß sie in eine Zwickmühle geraten war. Wenn die Kinder nicht zu ihrem Vater zurückkonnten, blieb nur noch der Weg in ein Heim — oder sie behielt sie vorläufig bei sich. Wobei nicht feststand, wie lange »vorläufig« bedeutete. Es trat damit genau das ein, was sie immer befürchtet hatte: Sie blieb auf den beiden Mädchen sitzen.
»Vielleicht«, sagte Mrs. Parker hoffnungsvoll, »könnten die beiden wenigstens bleiben, bis der Krieg vorüber ist? Dann würde man weitersehen. Die Kinderheime sind überfüllt zur Zeit.«
Was soll ich jetzt sagen? fragte sich Frances aufgebracht. Wenn ich ablehne, stehe ich doch da wie ein Mensch ohne Gewissen!
»Es ist nicht so einfach für mich«, meinte sie unbehaglich, »ich bin nicht mehr die Jüngste. Ich werde fünfzig im nächsten Jahr. Und ich habe keine Erfahrung mit jungen Mädchen.«
»Nun...«
»Besonders mit Marjorie gibt es immer wieder Probleme. Sie hat schon gedroht, auszureißen. Keine Ahnung, warum es ihr hier so wenig gefällt.«
»Vielleicht sollte man die Kinder entscheiden lassen«, schlug Mrs. Parker vor.
Frances kapitulierte. »Ja, in Ordnung. Lassen wir die Kinder entscheiden.«
Sie sprach am Abend mit ihnen. Am Mittag hatte sie Mrs. Parker nach Leigh’s Dale gefahren, wo sie ein Zimmer im »George and Dragon« nahm und warten wollte, was die Kinder sagen würden. Frances wußte, daß Mrs. Parker hoffte, sie würden sich für Westhill entscheiden, während Frances selbst inbrünstig wünschte, sie würden es nicht tun. Sie selbst konnte sie nicht fortschicken, sie würde das schon wegen Alice nicht fertigbringen.
Den ganzen Nachmittag über schob sie das Gespräch vor sich her. Sie hatte Victoria und Adeline Bescheid gesagt, und die liefen nun so verstört herum, daß Laura und Marjorie merkten, daß etwas nicht stimmte, und immer wieder fragten, was los sei. Gegen Abend stieg Frances mit bleischwerem Herzen die Treppe hinauf, ging zu den beiden Mädchen ins Zimmer und sagte ihnen, daß ihre Mutter nicht mehr am Leben war.
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Marjorie sofort mit scharfer Stimme, und ihre Miene verriet, daß sie Frances nicht über den Weg traute.
»Die Dame, die heute morgen da war, kommt von der Jugendfürsorge«, erklärte Frances. »Euer Vater hat ihr von euch erzählt. Nun muß sie irgendwie eure Zukunft regeln.«
»Ich habe längst gewußt, daß Mami tot ist«, sagte Marjorie, »das ist nichts Neues! « Sie sprach sehr forsch, aber sie war kreidebleich geworden.
»Ich weiß, das ist alles schrecklich für euch«, sagte Frances. »Ich wünschte, ich könnte euch eure Mutter wiedergeben.« Sie sah zu
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