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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Atemzüge lang wie versteinert. Und dann hob sie beide Arme, drückte ihn an sich und zog sich dabei an ihm hoch, damit sie ihre Stirn an seine drücken konnte. Und Sonam, die bisher - und so lange ich denken konnte - keine Träne vergossen hatte, begann auf einmal zu weinen. Das Schluchzen, das sich aus ihrer Brust löste, erschreckte mich; glich es doch mehr einem Röcheln. Und dieser Blick - den hatte ich noch nie an ihr gesehen: ein scheuer, verletzter, verzweifelter Blick, der Blick des Mädchens von einst. Und Kanam nahm sie behutsam in die Arme, als wäre sie keine alte Frau, sondern sein Kind, das er vor allen und gegen alle zu schützen hatte. Er wiegte sie zärtlich, eine ganze Weile lang, bevor sie sich sanft von ihm löste und ihre tastenden Finger seine Hand ergriffen.
    »Komm, mein Sohn, komm!«, sagte sie mit erstickter Stimme.
    Sonam hatte ihre Geschichte nie erzählt. Aber Kanam war zu ihr gekommen, und endlich konnte sie die Geschichte erzählen. Es war eine Geschichte von Heldenmut und Ehre, von Liebe und Tod und unendlichem Schmerz. Aber Sonam war nur die vermittelnde Kraft, die Kanam und mich zu Alo führte.
Bisher hatte ich nur wenig von ihm gehört; dennoch kannte ich ihn, träumte von ihm, sicherlich auch ohne es zu wissen. Sein Platz in dieser Geschichte war wesentlich; er war das entscheidende Verbindungsglied zwischen Kanams undeutlicher Ahnenreihe auf der einen und meinen Vorfahren auf der anderen Seite. Das Ineinandergreifen hatte bereits stattgefunden. Ja, Sonam erzählte Alos Geschichte. Und während sie sprach, bewirkte ich mit geschärften Sinnen das Nachleben eines Menschen, sein Weiterleben über die Zeiten. Es war eine gewaltige Anstrengung, ein Ausharren bis an den Rand meiner Kraft und noch darüber hinaus. Aber ich ließ nicht locker, konzentrierte mich auf mein Ziel, führte Alo zurück in die sichtbare Welt, bis ich ihn hörte und sah und fühlte und er ein Stück von mir wurde, mein eigenes Fleisch und Blut.

ZWEIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
    D ie Nomaden waren hart wie die frostige Erde unter den Pferdehufen. Ihre Augen, die ohne zu blinzeln unter den Fellkappen hervorstarrten, waren so scharf, dass sie durch Sonnenschleier und Nebel in die Ferne blickten. Ihre Sinne waren aufs Äußerste geschärft; das war für sie eine Frage des Überlebens. Der junge Nomade, der Alo hieß, spähte von dem Wacholdergebüsch auf der Granitwand hoch über dem Tal schon eine Weile aufmerksam auf das Arbeitslager jenseits des Sees. Knapp unterhalb des Kammes hatte er angehalten und seinen zottigen Braunen so dicht an das dunkle Gestrüpp gedrängt, dass er nur aus unmittelbarer Nähe gesehen werden konnte. Die Khampas bevorzugten kleingewachsene, robuste Pferde, die zäh, klug und anhänglich waren und weniger als edle Zuchttiere Gefahr liefen, gestohlen zu werden. Alo wusste, wo sein Vater damals den Sprengstoff versteckt hatte, ebenso wie er wusste, dass keine auch noch so grausame Folter ihn selbst dazu würde bringen können, das Versteck preiszugeben. Alo wusste auch, dass sein Vater getötet worden war. Ein einziges Gefühl erfüllte ihn: der Wunsch nach Rache! Was hätte Kanam, sein Vater, getan, wenn sein eigener Vater auf diese Weise gestorben wäre? Er hätte die Sache selbst in die Hand genommen. Er hätte den Verstorbenen gerächt, hätte gekämpft, wäre vielleicht unterlegen; ja, und er hätte womöglich nicht nur den Feind, sondern auch Unschuldige und sich selbst dabei vernichtet. Aber gekämpft hätte er trotzdem! Alo schien es, als wüchse er ganz in dieses Gefühl hinein, in dieses Verlangen nach Rache.

    Ein hochgewachsener, sehniger Mann war Alo, mit klaren, schnellen und lauernden Bewegungen. Sein hagerer Körper war wolfszäh, von der Sonne ausgedörrt und vom Wind gegerbt. Er hatte schon vieles gesehen, doch jetzt wunderte er sich sehr.
    Er wunderte sich, weil das Arbeitslager jenseits des Hügels lag und ein Mensch zu Fuß in der endlosen Weite unterwegs war. Eine kleine Gestalt, ein winziges Etwas, das sich allein vom Lager entfernt hatte. Eingehüllt in Lichtschleier wanderte dieser Mensch wie ein tänzelnder kleiner Geist dem Gebirge entgegen. In der großen Entfernung verlor ihn Alo dann und wann aus den Augen, und gerade wenn er glaubte, dass er ihn nicht mehr sehen konnte, fand dieser Mensch wieder den Weg in die klare Luft, zunehmend ein bisschen größer werdend, was bedeutete, dass er näher kam. Die Gestalt da unten lief schnell, erstaunlich schnell, leicht nach

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