Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
Vom Netzwerk:
Oddur meine ich, und sonst hat niemand etwas damit zu tun, außer Lúlli natürlich. Alles, was in dem Brief steht, ist wahr. Ich habe nur auszudrücken versucht … beschrieben, wie sein Herz klopft, wenn er an dich denkt, wenn … er dich ansieht und wenn er von dir träumt, wenn …
    Bist du nicht der Junge bei Geirþrúður?, fragt Rakel.
    Doch.
    Du schreibst sehr schlanke Buchstaben, dünn sind sie eigentlich, aber es steckt eine Menge in ihnen. Wie kommt das?
    Weiß ich eigentlich nicht, murmelt der Junge und schaut an Rakel vorbei auf den Zwieback, der sich im Kaffee auflöst.
    Ist nicht ein Freund von dir durch ein ausländisches Gedicht ums Leben gekommen?
    Nein, antwortet der Junge. Er starb, weil hierzulande der Fisch wichtiger ist als ein Menschenleben.
    Armer Junge, sagt Rakel und zieht die Nase hoch. Der Junge weiß nicht, ob sie Bárður oder ihn damit meint.
    Er hieß Bárður, sagt Andrea. Er hat seinen Anorak vergessen, sagt sie. Er lag neben dem Buch, das er gerade las, und er hat ihn vergessen, weil er zu viel über das Buch nachdachte.
    Die Zimmerdecke über ihnen dröhnt. Jetzt hört es sich an, als würde Gísli dort oben tanzen.
    Gísli liest auch viel, sagt Rakel, ihre Augen sind rot unterlaufen.
    Das Leben wird beim Lesen größer, sagt der Junge. Es wird reicher, sagt er. Es ist, als ob du etwas bekämest, was dir keiner mehr wegnehmen kann, niemals, sagt er. Es macht einen froh.
    Gísli ist nicht oft froh, sagt Rakel. Einmal hat er zu mir gesagt: Alle meine Bücher für deine Freude. Sonst spricht er nicht viel mit mir. Wozu auch? Er ist der Rektor der Schule und der Bruder von Friðrik und Séra Þorvaldur.
    Andrea steht auf, gießt den Kaffee und den aufgelösten Zwieback aus der Tasse, füllt sie zur Hälfte neu und stellt sie vor Rakel hin. Jetzt weißt du, dass der Brief von Oddur kam und nicht von irgendwelchen neidischen Krähen an den Fischplätzen. Und dieser Brief ist ein Antrag. Man hat mir gesagt, Oddur sei ein anständiger Mann, ein lieber Kerl. Und dass er auch über den Winter eine feste Arbeit hat. Einen besseren Mann als ihn bekommst du nicht, und jetzt trink mal deinen Kaffee!
    Aber du weißt, was sie uns antun können, ruft Rakel so laut, dass sie erschrecken. Ihre Lippen beben wieder, die dicken Hände tasten um sich, als suchten sie etwas zum Festhalten, doch manchmal scheint es einfach keinen Halt im Leben zu geben. Andrea sieht den Jungen an, als würde sie ihn gar nicht kennen, sähe ihn zum ersten Mal, und das fühlt sich nicht gerade angenehm an. Wie, hatte Jens vor ein paar Wochen oben in den Bergen im Schneesturm und im geringen Windschatten eines Sarges gefragt, wie kann man Hände, die zuschlagen, von solchen unterscheiden, die es nicht tun?
    Ja, sagt Andrea schließlich, ich weiß, was sie uns antun können.
    Es ist gut, allein zu leben, sagt Rakel und zieht schnell die Nase hoch. Manchmal ist es vielleicht ein bisschen langweilig, man wird zum Einsiedler, aber keiner tut mir was, und keiner verbietet mir was. Wenn ich allein bin, brauche ich vor nichts Angst zu haben, außer vor der Dunkelheit.

VII
    Rektor Gísli spaziert manchmal langsam in den hinteren Teil des Fjords hinein, um von den Häusern, den Leuten und vom Leben wegzukommen, oder wie man das nun nennen möchte, was um den Schulleiter herumbraust und ihn selten in Frieden lässt. Es ist Sommer, das Grün sprießt aus der Erde, wo blinde Würmer wohnen und das Erdreich lebendig erhalten, dafür sorgen, dass es nicht erstickt; ihnen haben wir also das Grün und vielerlei Blumen zu danken. Gísli beginnt seinen Spaziergang früh, er ist nicht unbedingt ausgeschlafen und vielleicht auch verkatert, seine Gedanken sind schwer und unfruchtbar, es sind eben keine blinden Würmer darin, die mit ihrem unermüdlichen Einsatz Leben ermöglichen und dennoch keinen anderen Lohn dafür erwarten dürfen als den, der im Leben selbst liegt. Gísli hat einen Spazierstock, den er vor vielen Jahren auf seiner letzten Auslandsreise in Deutschland gekauft hat. Wo sollte er das Geld für eine neuerliche Reise ins Ausland hernehmen? Geld findet man ebenso schwer wie den Sinn des Lebens. Umso länger darf man also an die letzte Reise zurückdenken, sie wieder und wieder auskosten, und der Spazierstock ist ein Prachtstück, aus Eiche geschnitzt, die in Licht und Dunkel im Süden, in Europa, gewachsen ist. Gísli nennt den Stock Heine – nach dem Dichter, der so gern sündigte im Fleische. Das tun wir doch beide, sagt

Weitere Kostenlose Bücher