Das Herz Eines Highlanders
wie der Mann. Nichts war unordentlich, außer einem eingedrückten Kissen. Lächelnd ging sie zum Bett und hob es auf, presste es einen Moment lang gegen ihr Gesicht und atmete seinen herben, männlichen Duft ein. Ihr Lächeln erstarb und wandelte sich in Erstaunen, als sie das zerfledderte Buch erblickte, das unter dem Kissen gelegen hatte. Äsops Fabeln. Es war jene bebilderte Handschrift, die sie ihm vor beinahe zwölf Jahren geschenkt hatte, an jenem verschneiten ersten Weihnachten, das sie zusammen verbracht hatten. Sie ließ das Kissen fallen, nahm das Buch und strich zärtlich mit den Fingerspitzen darüber. Die Seiten waren ausgefranst, die Illustrationen verblichen und kleine Zettel und andere merkwürdige
Dinge ragten heraus. Er hatte es all die Jahre mit sich getragen, seine Andenken darin aufbewahrt, genauso, wie sie es mit ihrer Ausgabe getan hatte. Verwundert hielt sie es in den Händen. Grimm Roderick war ein Krieger, ein Jäger, ein Leibwächter, ein oftmals harter Mann, der eine zerschlissene Kopie von Äsops Fabeln mit sich herumtrug und gelegentlich getrocknete Blumen und Verse zwischen den Seiten versteckte. Sie blätterte in dem Buch und stockte bei einer Nachricht, die Dutzende Male zerknüllt und wieder geglättet worden war. Ich werde bei Dämmerung auf dem Dach sein. Ich muss unbedingt mit dir reden, Grimm!
Er hatte sie nie vergessen.
Sensibel und dennoch stark, männlich und dennoch verwundbar, irdisch und sinnlich. Sie war hoffnungslos in ihn verliebt.
»Ich habe es behalten.«
Jillian wirbelte herum. Wieder einmal hatte sie nicht das leiseste Geräusch gehört, als er den Raum betreten hatte. Er stand in der Türöffnung und seine Augen waren dunkel und unergründlich.
»Das sehe ich«, antwortete sie flüsternd.
Er ging durch den Raum und ließ sich in einem Stuhl vor dem Feuer nieder, mit dem Rücken zu ihr. Jillian stand schweigend da und drückte das kostbare Buch zärtlich an ihre Brust. Sie waren der Vertrautheit, die sie sich immer mit ihm gewünscht hatte, so nahe, dass sie es nicht wagte, den Zauber durch Worte zu brechen.
»Ich kann nicht glauben, dass du mich nicht mit Fragen bombardierst«, sagte er vorsichtig. »Wie zum Beispiel, warum ich es aufbewahrt habe?«
»Warum hast du es aufbewahrt, Grimm?«, fragte sie, dabei spielte es im Grunde keine Rolle. Er hatte es bis zum heutigen Tage bei sich getragen und das war genug.
»Komm her, Mädchen.«
Jillian legte das Buch sanft auf einem Tisch ab und ging langsam auf ihn zu. Wenige Schritte vor ihm blieb sie stehen.
Grimms Hand schoss vor und legte sich um ihr Handgelenk. »Jillian, bitte.« Seine Stimme war so leise, fast unhörbar.
»Bitte was?«, flüsterte sie.
Mit einer schnellen Bewegung seiner Hand stand sie vor ihm, gefangen zwischen seinen Schenkeln. Seine Augen waren auf ihren Bauchnabel fixiert, als könne er nicht die Kraft aufbringen, den Blick zu heben. »Küss mich, Jillian. Berühre mich. Zeige mir, dass ich lebe«, flüsterte er.
Jillian biss sich auf die Lippen, als sich seine Worte in ihr Herz bohrten. Der kühnste, empfindsamste Mann, den sie je kennen gelernt hatte, fürchtete sich davor, nicht wirklich lebendig zu sein. Er hob den Kopf und beim Anblick seines Gesichtsausdruckes schrie sie leise auf. Ein unergründlicher Zug um den Mund, wirbelnde Schatten in den Augen: Erinnerungen an Zeiten, von denen sie sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte. Sie barg sein Gesicht in ihren Händen und küsste ihn, an seiner Unterlippe verweilend, die sinnliche Wölbung genießend.
»Du bist der lebendigste Mann, den ich je kennen gelernt habe.«
»Bin ich das, Jillian? Bin ich das wirklich?«, fragte er verzweifelt.
Wie konnte er sich über so etwas Gedanken machen? Seine Lippen waren warm und voller Leben, seine Hände bewegten sich über ihre Haut und erweckten Nervenenden, von denen sie nie geahnt hatte, dass sie überhaupt existierten. »Warum hast du das Buch aufbewahrt, Grimm?«
Seine Hände schlössen sich Besitz ergreifend um ihre Taille. »Ich habe es behalten, um mich daran zu erinnern, dass es bei allem Bösen auf dieser Welt immer noch Schönheit und Licht gibt. Du, Jillian. Du warst immer mein Licht.«
Jillians Herz jubilierte. Sie war gekommen, um Bestätigung für ihr zerbrechliches Zutrauen zu finden, um sich zu beweisen, dass die Zärtlichkeiten und die körperliche Anziehungskraft, die Grimm und sie in der vorherigen Nacht erlebt hatten, kein einmaliger Zwischenfall gewesen
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