Das Herz
»Wenn du möchtest, kannst du bleiben.«
Fanus Augen weiteten sich, und sie schüttelte vehement den Kopf. »Das kann ich nicht, Herrin! Das kann ich nicht!«
»Dann sag einem der Türhüter, er soll mit hereinkommen, damit der Anstand gewahrt bleibt.«
Nachdem Fanu aus dem Innenhof geflüchtet war, glättete Idite ihre Kleider. Es kümmerte sie zwar nicht sonderlich, was ein junger Mann, und sei er noch so hübsch, von ihr denken könnte, aber sie wollte auch nicht wie ein altes Klatschweib aussehen. Es ging schließlich um die Ehre ihres Sohnes und seines Hauses — das ja jetzt auch ihr Heim war.
Der alte Türhüter führte den Besucher herein und zog sich dann in eine Ecke des Innenhofs zurück, wo er sich im Schneidersitz niederließ. Idite betrachtete den Fremden genau, als sie ihn mit einer Geste aufforderte, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Fanu hatte recht gehabt: Er war von angenehmem Äußeren, groß und schlank, der gepflegte Bart ein klein wenig länger als schicklich — was ihm etwas Verwegenes gab —, die Kleidung im Stil des Nordkontinents elegant und luxuriös, Sachen, wie man sie wohl an einem jungen Edelmann aus Tessis oder Jellon sähe. Seine Hautfarbe und die dunklen, mandelförmigen Augen sagten ihr jedoch, dass er oder seine Familie aus derselben Weltgegend stammte wie sie.
»Lady dan-Mozan«, sagte er, die Hände vor der Brust gefaltet und den Kopf tief darübergeneigt. »Es ist sehr freundlich von Euch, mich zu empfangen.«
Die Höflichkeitsgeste traf sie im Innersten. Seit Jahren hatte sie sie nicht mehr mit solcher Anmut vollführt gesehen, seit ihrer Jugend in Nyoru. Eine Woge von Heimweh überschwemmte sie, und sie verbarg es, indem sie den Tuani-Gruß erwiderte. »Wie ich sehe, seid Ihr ein Landsmann von mir«, sagte sie. »Oder habt jedenfalls in meiner Heimat gelebt. Wie ist Euer Name, junger Mann, und was kann ich unnütze alte Frau für Euch tun?«
Er lächelte, und das stürzte sie noch tiefer in ihre Jugenderinnerungen: die heißen Wüstennächte und das Flüstern der Frauen, wenn die Männer zu Beginn des Ul-Ushia-Festes in ihrer prächtigsten Kriegeraufmachung vorbeiparadierten. »Unnütz? Wohl kaum. Eure Freundlichkeit und Weisheit sind legendär, Lady dan-Mozan. Ich danke Euch nochmals aufrichtig, dass Ihr mich in Euer wunderschönes Haus und Euren erholsamen Garten eingelassen habt. Ich bin weit geritten, um Euch zu sehen.«
»Ich bin geschmeichelt«, antwortete sie, jetzt ganz sicher, dass da etwas Sonderbares im Gange war. »Doch müsst Ihr wissen, dass es nicht mein Haus ist, sondern das meines Sohnes. Er hat mich freundlicherweise hier aufgenommen, als mein Haus Anfang des Jahres abbrannte. Das war eine sehr traurige Zeit, doch jetzt kann ich wenigstens meine Enkelkinder sehen, sooft ich möchte.« Sie zeigte auf Moseffir, der es fertiggebracht hatte, sein Gesicht völlig mit Dreck zu verschmieren. Idite seufzte. »Den da kann nicht einmal eine Großmutter davon abhalten, Unsinn zu machen. Moseffir! Komm her.«
»Der Brand natürlich«, sagte der junge Mann nickend, während sie das Gesicht des Kindes mit dem Handballen abwischte. »Mein tief empfundenes Mitgefühl zum Tode Eures geschätzten Gemahls. Effir dan-Mozan war ein Fürst unter den Kaufleuten.«
»Besser, denke ich, als ein Kaufmann unter Fürsten«, sagte sie, was ihn ein wenig überraschte. Sie ließ Moseffir los, der sofort zu seinen Ausgrabungsarbeiten zurücktappste. »Ich will mich nicht über Euch lustig machen, aber tut einer alten Frau den Gefallen und erspart ihr solch blumiges Zeug. Natürlich vermisse ich meinen Gatten mehr, als sich irgendjemand vorstellen kann. Ich schätze Eure Höflichkeit, aber da Ihr ihn nicht kanntet ...«
»Oh, doch«, sagte der Besucher. »Und ich habe ihn aufrichtig bewundert, wenn ich auch glaube, dass er diese Bewunderung nicht erwidert hat.«
Sie sah ihn eine ganze Weile schweigend an. »Ihr habt mir immer noch nicht Euren Namen gesagt.«
»Nein, habe ich nicht, Lady dan-Mozan. Weil Ihr mich zumindest kurz kennenlernen solltet, damit Ihr vielleicht besser von mir denkt, als es mein Name provoziert.« Er setzte sich aufrecht hin und zog sorgfältig die Ärmel seiner Jacke glatt. »Ich bin Dawet dan-Faar.«
Es war, als hätte er ihr einen Krug kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Hätte sich Idite nicht plötzlich so kraft- und hilflos gefühlt wie ein niedergetretener Schilfhalm, wäre sie wohl losgelaufen und samt ihrem Enkelsohn aus dem Innenhof
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