Das Internat
stand Breeze und wartete auf sie.
Mattie warf einen Blick den Korridor hinunter und erstarrte. Jetzt verstand sie Janes Panik. Sanitäter strömten in eines der Schlafzimmer hinein und wieder hinaus. Mattie hatte noch nie so viele von ihnen gesehen.
"Es ist Ivy", flüsterte Jane.
Nicht Ivy. Nicht
Ivy!
Diese Worte hallten wie ein Echo in Matties Kopf, bis sie zu einem Schreien wurden.
Jane wollte hinunter und herausfinden, was passiert war. Vielleicht geht es Ivy gut, dachte sie. Mattie konnte nicht mitgehen. Sie erlaubte sich nicht oft, ängstlich zu sein, doch das hier hatte sie nicht unter Kontrolle. Wie ein Messer schnitt das Entsetzen ihr in die Kehle. Ivy war etwas Schreckliches zugestoßen, und Mattie konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Sie wollte es auch nicht sicher wissen, niemals. Es würde sie umbringen.
In wenigen Momenten hatten die Sanitäter den Bereich abgesperrt und baten die Ansammlung von Lehrern und Schülerinnen, sich zu zerstreuen. Eine Gruppe von Mädchen kam flüsternd den Flur entlang und auf Mattie, Jane und Breeze zu. Keines der Mädchen sah sie an. Mit einem Mal wurde Mattie klar, dass sie nicht gemieden wurden. Etwas Grauenhaftes war passiert.
Mattie zog sich der Magen zusammen. Sie schluchzte auf. Daraufhin griff Breeze so fest nach ihrer Hand, dass Mattie der Atem stockte. Schmerz. Ein angenehmes Gefühl.
Eines der näher kommenden Mädchen flüsterte ihren Freundinnen zu: "Sie ist tot, das arme Ding. Ich habe gesehen, wie sie ihr ein Laken über den Kopf gezogen haben."
"Hat sie sich umgebracht?", fragte eine andere.
"Ja, einer der Sanitäter sagte, es sei Selbstmord gewesen."
Ein drittes Mädchen mischte sich ein. "Ich habe es auch gehört. Eine Überdosis."
Mattie schüttelte den Kopf.
Selbstmord? Ivy? Nein. Das glaube ich nicht.
Jane nahm Matties andere Hand, und so standen die drei aneinandergedrängt in entsetztem Schweigen.
Wer danach was gesagt hatte, wusste Mattie nicht. Aber sie würde sich bis ans Ende ihrer Tage daran erinnern, dass die in diesem Moment geflüsterten Worte der drei wie eine Prophezeiung wirkten.
"Verdammt! Sie hat sich umgebracht?"
"Ich glaube das nicht. Ivy war vielleicht etwas depressiv, aber das hätte sie sich nicht angetan. Sie hätte es uns nicht angetan."
"Ich glaube es auch nicht. Das war das böse Weib von Direktorin. Seht ihr sie hier irgendwo? Wo ist sie? Warum ist sie nicht hier?"
"Es war Rowe."
"Jetzt müssen
wir
sie umbringen."
Jede einzelne Seite hatte Breeze aus ihrem Lateinbuch gerissen, aber es war nicht genug. Sie saß in einem Haufen von Papierfetzen. Und jetzt wollte sie alles in dem Zimmer kaputtmachen, was kaputtgemacht werden konnte.
Auf der Suche nach etwas Wertvollem, das sie zerbrechen könnte, sah sie sich um. Wenn sie nicht alles zerstörte, alles, das ihr etwas bedeutete, dann würde sie sich selbst in Stücke reißen.
Ivy war weg. Ivy hatte nichts. Warum also sollte Breeze Wheeler noch etwas besitzen? Warum hatte sie das Recht zu leben?
Hilflos wirbelte sie im Kreis herum. Dann sah sie den goldenen Armreif, den ihr einer von Miss Rowes Männern geschenkt hatte. Mit aller Kraft brach Breeze ihn auseinander und warf ihn in den Müll. Als Nächstes fegte sie die billige Glaslampe vom Nachttisch und zuckte zusammen, als sie auf dem Hartholzfußboden in tausend Stücke zerbrach. Was konnte sie noch zerstören?
Als es vorbei war, saß Breeze inmitten der Trümmer und sah starr auf das Blut an ihren Händen, beobachtete, wie es an ihren Armen entlangrann wie Tränen. Der Zorn war verflogen. Matt fragte Breeze sich, ob der tiefe, reißende Schmerz jemals nachlassen würde.
26. KAPITEL
M attie war von der Schönheit überrascht. Sie konnte sich nur an die Angst und all die schlimmen Dinge erinnern. Jetzt entdeckte sie, wie die goldene Turmspitze die Wolken über ihr teilte und dem Campus einen Heiligenschein aus Sonnenlicht verlieh. Mattie hatte erwartet, dass sie Abscheu empfinden würde. Stattdessen stieg nun eine sengende Traurigkeit in ihr auf, während sie die von Bäumen gesäumten Wege entlangging, die sich durch Büsche von Farnkraut und weitläufige Grünflächen zogen.
Die Sommer hier hatten ihr am besten gefallen. Miss Rowe war dann meistens im Urlaub gewesen. Und wenn die anderen Schülerinnen die Zeit bei ihren Verwandten verbrachten, hatte es sich angefühlt, als gehörte der Campus den Stipendiatinnen. Unter ihnen war Ivy die einzige mit einem Zuhause gewesen, in das sie hatte zurückkehren
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