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Das Internat

Das Internat

Titel: Das Internat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Forster
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können. Irgendwo in Napa Valley hatte sie gelebt, aber nie über ihre Familie gesprochen, mit niemandem.
    Mattie hatte es nicht viel ausgemacht, dass sie nirgendwohin zurückkehren konnte. Die langen Sommerferien waren ruhig und voller Hoffnung gewesen, so wie die Rowe-Akademie immer hätte sein sollen. Es lag an den Menschen, nicht an den Gebäuden oder der Umgebung, erinnerte Mattie sich. Menschen waren für all die schlimmen Dinge verantwortlich gewesen.
    Regentropfen unterbrachen ihre Gedanken. Einer landete ihr auf der Wange. Ein anderer auf ihren Wimpern. In der Luft lag der Geruch nach dem Staub der Wege, so wie häufig vor einem Regenguss. Wenn der Himmel sich öffnete, würde der Boden durchweichen, und alles würde wunderbar nach nasser Erde und süßem grünen Gras riechen.
    Ihre Gedanken holten Mattie unerbittlich ein und quälten sie mit Freude und Schmerz. Wie würde sie damit umgehen? Erinnerungen wurden wach, und Mattie hatte Angst, dass sie mit ihnen nicht fertig würde – nicht einmal mit den guten. Vielleicht schmerzten die guten am meisten, weil es so wenige und so wertvolle waren; jeder Gedanke ein winziger Diamant, hell und strahlend, aus schwarzem Kohlenstoff geschlagen. Ein winziger Diamant, scharf und schneidend.
    Stopp, Mattie, oder es wird dich überwältigen. Du bist hier, um das Band zu finden, nicht um in Erinnerungen zu schwelgen.
    Sie senkte den Kopf und machte sich auf den Weg über den Kies des Parkplatzes hinunter zu den Hallen und Gebäuden, die den Innenhof umgaben. Die Anordnung entsprach beinah der einer normannischen Festung, aber der Stil war gotisch. Heute bildete ein Gebäude mit einem Eckturm ihr Ziel, Steuben Hall.
    Als sie den Innenhof betrat, verlangsamte Mattie ihre Schritte. Die Erinnerungen waren noch zu präsent, als dass sie den Hof hätte gemütlich finden können. Graue Steingebäude ragten auf jeder Seite in die Höhe, drohende Wächter, die das Licht ausschlossen. Die Beine wurden Mattie schwerer, während sie sich dem Turm aus bröckeligen Mauersteinen näherte, in dem die Direktorin gewohnt hatte.
    Je langsamer sie ging, desto heftiger regnete es.
    Von irgendwoher klang der Ruf einer Trauertaube zu ihr herüber. Ein trostloser Laut. Obwohl Mattie den Vogel nie gesehen hatte, war sie von dem sehnsüchtigen Gurren an jedem Morgen in ihren vier Jahren hier begleitet worden. Es konnte nicht derselbe Vogel sein. Nicht nach dreiundzwanzig Jahren.
    Ihre Seidenbluse und die Leinenhose waren durchnässt, als sie die Stufen der Steuben Hall erreichte. Sie hätte eine Jacke anziehen sollen. Ihr ganzes Leben hatte sie in der Bay Area verbracht, und nie hatte die Wettervorhersage gestimmt, das Wetter schien unberechenbar. Matties nackte Füße quietschten in den Pumps, die Breeze sie zu tragen genötigt hatte.
    Ein weißes Licht irritierte sie. Zurück im Hof, sah sie, wie sich Blitze am Himmel entluden. Die gezackten blauen Spitzen ließen ihre Erinnerung zurück zu der engen Abseite im Dachboden des Turms wandern, wo ein vierzehnjähriges Mädchen erwartete, jede Sekunde einen tödlichen elektrischen Schlag zu bekommen, und versuchte, sich nicht an ihrer blutigen Zunge zu verschlucken.
    Mattie befeuchtete sich die Lippen. Das Bild vor ihren Augen wurde grau und verschwamm.
    Sie drehte sich um und verließ den Hof, starr vor Entsetzen. Als sie den Kiesplatz erreichte, rannte sie zu dem einzigen Zufluchtsort, den sie kannte: in den dunklen Kiefernwald, der den Campus umgab. Sobald sie den Wald betrat, schützten sie die Zweige vor dem Regen, und sie lief über ein Bett von Kiefernadeln auf dem Boden. Der verlassene Geräteschuppen war nicht weit entfernt, eine gammlige schwarze Hütte vor den aschgrauen Bäumen. Die Erleichterung zwang Mattie fast in die Knie, als sie den Schuppen entdeckte.
    Mit unsicheren Schritten ging sie auf ihn zu und öffnete die Tür zu einem der wenigen Orte, an denen sie sich in Rowe sicher gefühlt hatte. Es war dunkel und schmutzig, eine Dritte-Welt-Hütte, aber hier hatten drei junge Mädchen Zuflucht gefunden und ein Band zwischen sich geflochten, das sie gemeinsam stark genug machte, Mächte zu ertragen, denen sie allein erlegen wären.
    Fast erwartete Mattie, ihre Freundinnen hier warten zu sehen, zusammengekuschelt um den rostigen Grill, in dem ein paar getrocknete Tannenzapfen brannten. Sie hatten die Fenster mit Zeitungspapier zugeklebt, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen und gleichzeitig ein wenig Tageslicht durchschimmern

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