Das Internat
sollten wir um Schutz bitten." Sie ließ Matties Hand los und kramte ein winziges Fläschchen aus der Tasche ihrer Jeans.
Mattie erkannte den Herzwein und spürte das kalte Prickeln der Angst, das sie in die Zeit zurückversetzte, als ihre Mutproben begonnen hatten. Es war während ihres zweiten Jahres in Rowe gewesen, einige Monate nachdem Miss Rowe als verbitterte Frau aus einem Sommerurlaub in Europa zurückgekehrt war. Keines der Mädchen hatte sich mit den "Freunden" der Direktorin treffen wollen, den Männern, auf die Miss Rowe die Mädchen vorbereitet hatte. Besonders als klar wurde, dass diese sexuelle Gefälligkeiten erwarteten, hatten sich die Mädchen geweigert. Aber Miss Rowe hatte furchterregende Mittel und Wege gefunden, sie eines Besseren zu belehren.
Eines Abends war Ivy damit herausgeplatzt, dass sie nicht von irgendeinem schrecklichen Mann angefasst werden wolle. Die anderen Mädchen hatten ihr zugestimmt, doch Miss Rowe hatte sie zum Schweigen gebracht und versprochen, ihnen etwas zu zeigen, das ihre Meinung ändern würde. In ein Schälchen hatte sie eine klare Flüssigkeit aus einem Parfumflakon gegossen und es mit einigen Kürbiskernen auf das Fensterbrett gestellt.
Still hatten sie zugesehen, wie Miss Rowe den viktorianischen Vogelkäfig mit ihrem Sittich zum Fenster trug, ihn auf den Sims stellte und die Tür öffnete. Umständlich kletterte der Vogel aus dem Käfig und machte sich über die Kürbiskerne her. Dann tauchte er seinen Schnabel in das Schälchen, trank die Flüssigkeit und fiel tot um.
Miss Rowe hatte die Gesichter der Mädchen aus smaragdgrünen Augen beobachtet. "Seht ihr, wie schnell sich die Dinge ändern? Vor wenigen Momenten war mein süßer Vogel in seinem Käfig und dachte an nichts anderes als an seine nächste Mahlzeit. Man darf nichts als selbstverständlich hinnehmen, Ladys. Nichts."
Keines der Mädchen hatte an dem Zweck dieser Lektion gezweifelt. Ein Vogel war vor ihren Augen geopfert worden, und sie waren nicht sicherer als das kleine Tier, das wollte sie ihnen sagen. Damals hatten sie begonnen, Fläschchen von Herzwein aus Miss Rowes Sammlung zu stehlen und sie in kleinen Dosen zu nehmen, um sich dagegen immun zu machen. Sie hatten sich die Flüssigkeit auf Hände und Gesicht gerieben, so wie Miss Rowe es ihnen zu kosmetischen Zwecken beigebracht hatte. Dann tranken sie aus den Fläschchen, winzige Schlückchen zuerst, nicht einmal genug, um einen Vogel zu töten.
Heute ging es Jane nicht um ihre Hände oder ihr Gesicht. Sie nippte am Gift, verzog das Gesicht und gab das Fläschchen an Breeze weiter, die dasselbe tat. Als Mattie einen Schluck nahm, fragte sie sich, warum sie nicht schon tot waren – und warum Ivys Immunität sie nicht gerettet hatte.
"Wartet, ich habe etwas", sagte Breeze und zeigte ihnen eine rote Locke, die sie in der Brusttasche ihrer Bluse aufbewahrt hatte. "In der Nacht, in der Ivy starb, habe ich einen der Sanitäter um eine Locke ihres Haares gebeten, zur Erinnerung. Er sagte mir, dass das nicht ginge, aber am nächsten Tag gab er sie mir. Vielleicht können wir sie auch gebrauchen?"
Sie nahmen sich an denen Händen und sprachen mit gedämpfter Stimme. Jane begann: "In der alten Tradition griechischer Mythologie wird uns die Locke unserer hingerichteten Schwester unverwundbar machen gegen alle Angriffe. Wie wir uns bemühen, ihrem Tod eine Bedeutung zu geben, bieten wir uns unterwürfig Artemis an, der Jägerin, der Beschützerin junger Frauen, die über uns wachen wird und uns in unserem Kampf leiten soll."
"Artemis", murmelten alle.
"Noch etwas." Mattie zog das Stück Tannenzapfen aus ihrem Haar und zeigte ihnen die scharfe Spitze. "Wir werden etwas Blut brauchen."
Mattie versuchte, nicht zusammenzuzucken, als sie sich schnell in den Finger stach. Wenn man Heftpflaster in Sekundenschnelle abzog, tat es ja auch weniger weh, als wenn man es langsam tat. Trotzdem brannte es höllisch. Die anderen sahen mit aufgerissenen Augen zu, als sich ein Tropfen tiefroten Blutes bildete.
"Jetzt ihr", sagte Mattie und reichte die Spitze an Breeze weiter, die nach vorn schwankte und fast ohnmächtig wurde, bevor sie sich wieder fing. In dem Moment regten sich erste Zweifel in Mattie, ob ihr Angriff zu dritt gelingen würde.
Jane schlich die Wendeltreppe barfuß hoch. Sie musste mucksmäuschenstill sein, und Schuhe waren verräterisch. Miss Rowe sollte in einer Besprechung des Lehrkörpers im Verwaltungsgebäude sein. Deshalb hatte Jane keinen
Weitere Kostenlose Bücher